: Flucht gestoppt, Mann tot
aus Mühlhausen HEIDE PLATEN
28. Juli 2002, eine warme Sommernacht, kurz nach vier Uhr morgens. René Bastubbe, 30 Jahre, und Marco M., 23 Jahre, haben sich amüsiert, haben getrunken und geblödelt – was junge Männer halt so machen, wenn sie gemeinsam durch die Gemeinde ziehen. René Bastubbe hat nur noch kurze Zeit zu leben. Er verblutet auf dem Pflaster der Innenstadt im nordthüringischen Nordhausen, von einer Polizeikugel in den Rücken getroffen. Schütze ist der Polizeiobermeister René S., gleicher Vorname, gleiches Alter, ungleiche Waffen. Bastubbe, reichlich Alkohol und außerdem Kokain im Blut, hat sich seiner Festnahme durch Würfe mit Pflastersteinen entziehen wollen. Der Polizeibeamte hat geschossen. Alles, da sind sich alle Zeugen einig, sei sehr schnell gegangen.
Seit Ende September wird vor dem Landgericht Mühlhausen gegen René S. verhandelt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm fahrlässige Tötung vor. Die Rekonstruktion des Tatgeschehens ist eine Mosaikarbeit, denn viele Anwohner in der Innenstadt von Nordhausen haben Anteil genommen, aus dem Fenster gesehen, wollen dabei gewesen sein, haben etwas gehört, das eine oder andere beobachtet, den Todesschuss, die Waffe, die Pflastersteine. Die einen erinnern sich an die Stille nach dem Schuss, andere an Geschrei. Auch wer eigentlich nichts zu berichten hat, ist überzeugt: „Ich habe es doch selbst gesehen!“
René Bastubbe war in der Kleinstadt bekannt. 1992 wurde er wegen schwerer Körperverletzung zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er war in der rechten Szene und Fan der Band „Böhse Onkelz“. Nach seiner Entlassung habe er sich, sagen Freunde und Verwandte, verändert, sei nachdenklicher geworden. 1998 wird sein Sohn Jason geboren. Ein Pfarrer hilft Bastubbe im Jahr darauf bei der Verweigerung des Kriegsdienstes. Seinen Zivildienstplatz sucht er sich selbst aus. Er arbeitet in der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Mittelbau Dora, wo jüdische Häftlinge im Nationalsozialismus für die Rüstungsindustrie arbeiten mussten und 20.000 Menschen ermordet wurden.
Bastubbe führte Besucher. Seine Arbeit beschäftigte ihn, ließ ihn nicht mehr los. Er freundete sich mit einem KZ-Überlebenden an, korrespondierte. 2001 begann René Bastubbe eine Umschulung als Zimmermann. Von seiner Zeit im Dunstkreis rechter Jugendlicher blieb ihm die Vorliebe für die Musik. Er wechselte seinen Freundeskreis und wurde zum Fan der Band „Hassmütz“ in Frankfurt am Main, besuchte ihre Konzerte, die Musiker gewöhnten sich an ihn. Auch hier entstand Freundschaft. Ein Bandmitglied erinnerte in einem Nachruf an die „überschäumende Lebensfreude“, der sich keiner habe entziehen können.
„Abgefeiert“ hat Bastubbe auch in der Nacht vom 28. Juli. Hier und da ein paar Biere, dazu Koks, ein Rausschmiss auf einer Geburstagsfete, bei der eher Renés Freund Marco unwillkommen war, die Diskothek im Jugendclubhaus und dann keine Zigaretten mehr. Das letzte Kleingeld wandert in einen Automaten, der die Münzen schluckt, aber nichts hergibt, nichtiger Anlass, großer Zorn. Die beiden hämmern auf den Automaten ein, traktieren ihn mit Steinen und ziehen schließlich unverrichteter Dinge schimpfend davon. Zwei Anwohner rufen die Polizei an. Irgendwie ahnen die beiden jungen Männer, dass sie Ärger bekommen könnten, wollen sich zuerst auf dem Dach des Kinos „Metropolitan“ verstecken, klettern dann aber wieder nach unten auf die Straße und drücken sich hinter einen Imbisswagen.
Die Polizeistreife kommt, die Polizistin Anja L. nimmt Marco M. schnell und professionell fest. René Bastubbe flüchtet, der Polizist S. setzt ihm nach, sie rangeln, Bastubbe reißt sich los. Die Innenstadt ist eine Baustelle, die Jagd geht über Tische und Stühle einer Gaststättenterrasse, zwischen Baustellen hindurch. Bastubbe bückt sich, wirft einen Pflasterstein, 3 Kilo schwer, dann einen zweiten. S. weicht aus, zieht die Waffe und schießt.
Der Rest bleibt im Dunkeln. Wusste Bastubbe überhaupt, dass sein Verfolger Polizist war? Den Ruf „Halt! Stehenbleiben!“ haben einige Zeugen gehört, das Wort „Polizei“ kaum jemand. Die Waffe haben einige gesehen, gerader Arm, auf das Opfer gerichtet. S. behauptet, er habe die Pistole zuerst nach oben gehalten, habe eigentlich in die Luft schießen wollen, sich dann aber in Lebensgefahr gewähnt, weil Bastubbe wieder nach einem Stein griff. Er habe die Beine treffen wollen, unglücklicherweise habe sich der Täter, der zum Opfer wurde, gerade gebückt, als ihn der Schuss in der Höhe von 1,16 Metern rechts in den Rücken traf und unter der linken Achselhöhle steckenblieb. Bastubbe verblutete.
René S. benutzte die seit 2001 eingesetzten Neun-Millimeter-Deformationsgeschosse, die gefährliche Täter durch Schock sofort stoppen sollen. Sie „pilzen auf“, vergrößern sich nach dem Eindringen im Körper um ein Drittel. Das Projektil zerfetzte die Hauptschlagader von Bastubbe.
Die Vorwürfe gegen die Thüringer Polizei und deren Führung häufen sich in den letzten Jahren. 1999 erschossen Nordhäuser Polizisten in Heldrungen den Wanderer Friedhelm Beate, weil sie ihn mit dem Mörder und Ausbrecher Dieter Zurwehme verwechselten. Das Verfahren wurde eingestellt. Im Juli 2003 wurden drei Thüringer Polizisten in Hamburg zu je einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt, weil sie während einer Demonstration versehentlich zwei zivile Kollegen brutal verprügelt hatten. Die Hamburger Staatsanwaltschaft stellte die Frage nach den Zustand der Thüringer Polizei, die „Straftäter in ihren eigenen Reihen deckt“.
Polizeikritiker wie der Bremer Rechtsanwalt Rolf Gössner werfen der Thüringer Polizeiführung Verschleppung und Vertuschung statt Aufklärung vor. Gössner stellte auf einer Veranstaltung zum ersten Todestag von Bastubbe die Frage, ob er überlebt hätte, wenn herkömmliche statt der Deformationsmunition verwandt worden wäre.
Im Verfahren gegen René S. war die Ermittlungsbehörde ausgerechnet die eigene Dienststelle in Nordhausen. Und das macht die Crux des Verfahrens aus. Der Vorsitzende Richter Jürgen Schuppner, ein verbindlicher Mann, setzt sich nur um ein Geringes weniger dem öffentlichen Vorwurf der Parteilichkeit aus als Oberstaatsanwalt Hans-Joachim Petri, dem vorgeworfen wird, den Fall schon durch die Anklage tief gehängt zu haben. Er klagte wegen fahrlässiger Tötung an, weil René S. die Situation verkannt habe. Sein Opfer sei „erheblich alkoholisiert“ und damit relativ ungefährlich gewesen. Umso bemerkenswerter war es, dass das Gericht Zweifel an der Anklage einräumte, nachdem René S. zu Beginn ausgesagt hatte, er habe eigentlich zuerst nur Stärke zeigen, einen Warnschuss abgeben wollen, dann aber gezielt abgedrückt, als Bastubbe wieder zu einem Pflasterstein griff: „Ich will nicht sagen, dass ich panisch reagiert habe, aber ich habe gewusst, dass es jetzt ernst wird.“ Er habe, sagte er, bewusst gehandelt und eigentlich die „unteren Extremitäten“ treffen wollen. Deshalb könne, so sagte Richter Schuppner, auch eine höhere Strafe wegen Körperverletzung mit Todesfolge infrage kommen.
Die Eltern von René Bastubbe sind Nebenkläger. Der Vertreter des Vaters, Rechtsanwalt Ulrich Nörthemann, schließt Totschlag nicht aus. Der Vater, Gerhard W., sitzt an jedem Verhandlungstag mit zerfurchter Stirn, das Gesicht vorzeitig gealtert, neben dem Anwalt. Er ist keiner, der Rache will, sondern er wünscht sich nur „eine angemessene Bestrafung dafür, dass ein Mensch getötet wurde“. Für ihn ist es unträglich, dass S. wieder im Dienst ist. Die Konfrontation mit dem Angeklagten fällt ihm schwer. Kein Wort des Bedauerns von dessen Vorgesetzten, keine Entschuldigung. René S. wirkt entspannt, ein glattes Gesicht, keine Falte, er lächelt, verspeist im Gerichtssaal einen Apfel. Kleinigkeiten, aber sie schmerzen.
Umso beeindruckter ist der Vater von der Aussage der Kollegin von S. Die Polizistin Anja L. macht sich Vorwürfe. Sie habe ihren Kollegen während des Einsatzes aus den Augen verloren, als sie Marco M. mit Handschellen an ein Geländer schloss. Und geht während ihrer Zeugenaussage mit sich selbst ins Gericht, fühlt sich verantwortlich für den Angeklagten. Hätte sie sich doch noch mehr beeilt, um ihm rechtzeitig zur Hilfe kommen zu können. Er solle das Pfefferspray benutzen, habe sie S. noch zugerufen, gehört, wie der zurückrief, dass das nicht wirke. Wäre, überlegt sie, das Opfer nur nicht in die Sackgasse einer Baustelle gerannt: „Wäre er doch fortgelaufen, dann wäre mein Kollege mit Sicherheit zu mir zurückgekommen.“
Ein Anwohner, der Rentner Walter E., blieb während der entscheidenden Minuten telefonisch mit dem Polizeirevier verbunden und schilderte, was er sehen konnte. Das Protokoll ist kurz, Pausen eingerechnet kaum zwei Minuten lang: René S., lässt sich daraus schließen, war auf Verfolgung aus. Bastubbe warf Steine, Rene S. schoss, statt sich zurückzuziehen und Verstärkung anzufordern.
Über die Wirkung der neuen Munition wusste vor Gericht auch der Schießausbilder der Thüringer Polizisten nicht viel. Nur, und das betont er immer wieder, dass die „Mannstopp-Wirkung“ ein Fortschritt sei, weil sie Polizisten und Unbeteiligte schütze. Was die Waffe im Körper des Getroffenen anrichtet, ist ihm unbekannt. Auch die Gerichtsmedizinerin ist überfragt. Sie habe erst zwei getroffene Leichen untersucht. Gesagt werden könne aber, dass die Zerstörung im Inneren von Menschen größer sei als bei herkömmlicher Munition.
Was Freunde und Verwandte von René Bastubbe während des Verfahrens außerdem umtreibt, ist die unterschwellige Parteinahme von Medien und Nachbarn. Das Opfer war vorbestraft, wurde irrtümlich als „Automatenknacker“ stigmatisiert. Nordhausen ist seither gespalten. Bastubbe, sagen viele, habe seinen Tod selbst verschuldet. Volkes Stimme ist Teil einer öffentlichen Debatte über die Legitimität von Todesschüssen.
Anfang der Woche plädierte Staatsanwalt Petri auf eine Bewährungsstrafe von acht Monaten, die Verteidigung auf Freispruch, die Nebenklage beantragte vier Jahre Gefängnis. In seinem letzten Wort sagte der Angeklagte, er habe Angst gehabt und bedauerte erstmals die Tat. Heute ergeht das Urteil.
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