: Einer hustet, alle haben Grippe
13,5 Prozent Arbeitslose, und mehrere Hundert kommen demnächst noch hinzu: Die angedrohte Schließung des Handy-Werks in Flensburg durch den US-Konzern Motorola sorgt für eine neue Krise in einer ohnehin strukturschwachen Region
aus FlensburgMATTHIAS ANBUHL
„Der Konzernleitung glaubt hier doch niemand mehr. Wir gehen eher davon aus, dass in ein bis zwei Jahren alles dichtgemacht wird“, sagt Dieter Neugebauer, verdreht dabei seine Augen und winkt mit seiner rechten Hand resigniert ab. Der Betriebsratsvorsitzende des Flensburger Motorola-Werks sitzt in der Kantine und informiert seine Kollegen über die Pläne der Konzernleitung im fernen Illinois (USA). „Wir haben uns hier wirklich krumm gemacht: Zwölf-Stunden-Schichten, weniger Zulagen – und alles im Vertrauen, wir könnten unsere Arbeitsplätze retten. Und jetzt?“
Vor drei Wochen haben Dieter Neugebauer und die 1.800 Beschäftigten des Werks in der Fördestadt von den Kürzungsplänen erfahren. Die Massenfertigung von GSM-Handys wird ab Januar von der dänischen Grenze nach China verlagert – aus Kostengründen. Wenn das passiert, stehen 600 Männer und Frauen auf der Straße. Hinzu kämen etliche Mitarbeiter bei Zuliefererfirmen. „Eine Schließung wäre nicht nur für Flensburg, sondern für die gesamte Region eine Katastrophe“, klagt Michael Rocca, Staatssekretär im Kieler Wirtschaftsministerium.
„Wenn Motorola hustet, hat Flensburg gleich Grippe“, diagnostiziert Wilfried Schramm, Sprecher des örtlichen Arbeitsamtes. 5.550 Menschen waren im September in Flensburg ohne Arbeit – das entspricht einer Quote von 13,5 Prozent. „Sie können sich an fünf Fingern abzählen, was es für uns bedeutet, wenn noch einmal 600 Menschen ihren Job verlieren.“
Dabei stand Motorola einst als Sinnbild für den wirtschaftlichen Aufschwung einer strukturschwachen Region. Vor gut fünf Jahren baute der US-Konzern am westlichen Rand der 80.000 Einwohner zählenden Grenzstadt eine der modernsten Handy-Fabriken Europas. Sie steht auf einem 30.000 Quadratmeter großen Areal und verschlang Investitionen von mehr als 100 Millionen Euro. Als Gründe für die Standortwahl nannte das Unternehmen die erstklassige Infrastruktur und die Zuverlässigkeit der gut ausgebildeten Mitarbeiter, und das Wall Street Journal schwärmte von „Flensburger Übermenschen“.
Stadt, Land Schleswig-Holstein, Bund und Europäische Union halfen kräftig mit. Rund 33 Millionen Euro pulverten sie in die Mobiltelefon-Schmiede hinein mit der Auflage, 3.000 Jobs zu schaffen. Der US-Konzern erfüllte diese nie: Selbst in Spitzenzeiten beschäftigte das Werk nur knapp 2.500 Mitarbeiter.
Vor gut zwei Jahren kam die Wirtschaftskrise auch zu Motorola. Im Frühling 2001 wollte der Konzern einen seiner zwei Produktionsstandorte in Europa schließen: Flensburg oder das schottische Bathgate. Motorola machte den Standort in Schottland mit 3.000 Mitarbeitern dicht. Die Flensburger Beschäftigten zahlten einen hohen Preis, um ihr Werk zu erhalten: Arbeitszeitverlängerungen ohne Lohnausgleich. „Trotz der hohen deutschen Löhne arbeiten wir auf dem Kostenniveau von Mexiko und Brasilien“, jubelte Werksleiter Dr. Christoph Hollemann noch im Frühjahr. Heute sagt er: „Aber mit den Preisen von China können wir nicht konkurrieren.“
„Strategische Neuausrichtung der Produktionskapazitäten“, nennt Motorola Deutschland den Arbeitsplatzabbau. „Einen gesellschaftspolitischen Skandal“, nennt Flensburgs IG Metall-Bevollmächtigter Meinhard Geiken das Vorgehen des Handy-Konzerns. „In China leben die Menschen in einem totalitären Staat ohne freie Gewerkschaften. Und die Konzernleitung nutzt diese Umstände eiskalt aus.“ Den Hinweis auf die hohen Lohnnebenkosten quittiert Geiken mit einem müden Lächeln. „Wir haben mitten in Europa auf dem Preisniveau von Niedriglohnländern produziert. Jede Vorgabe des Konzerns haben die Mitarbeiter hier erfüllt.“
Nun wollen Betriebsrat und Gewerkschaft nicht mehr klein beigeben. Neugebauer präsentiert die Forderungen des Betriebsrats: Ein Qualifizierungsgesellschaft, für die 600 Kollegen, an der sich auch Motorola beteiligt und eine Beschäftigungsgarantie für die restlichen 1.200 Mitarbeiter – zumindest in den kommenden zwei Jahren. Eine Forderung, an deren Umsetzung selbst Gewerkschafter Geiken nicht glaubt. „Für eine Beschäftigungsgarantie bräuchten wir einen Tarifvertrag. Und den wird es nicht geben. Die US-Konzernspitze meidet Gewerkschaften wie der Teufel das Weihwasser.“ Mehr Erfolg verspricht eine Forderung des Landes. Man will rund 3,5 Millionen Euro bereits ausgezahlter Subventionen von Motorola zurück. „Wenn Subventionen zu Unrecht geflossen sind, werden wir diese Summe begleichen“, verspricht Werkschef Hollemann.
Geht die Konzernleitung nicht auf die Wünsche der Belegschaft ein, für die diese bereits vor zwei Wochen in der Innenstadt demonstrierte, drohen Betriebsrat und IG Metall mit offener Konfrontation. „Motorola erwartet in Flensburg noch drei Monate lang volle Produktion. Dann sollte das Unternehmen aber auch den Beschäftigten entgegen kommen“, sagt Geiken. Im Klartext: Gibt der Konzern kein Geld für die Qualifizierungsgesellschaft, wird gestreikt. Geiken: „Aber lieber wären uns natürlich Verhandlungen.“
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