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Theater als Konsensanstalt

Gelungene Kombinatorik von Stück, Ensemble und Regisseur: Das Hamburger Thalia-Theater hat sich unter dem Intendanten Ulrich Khuon zu einer der interessantesten Bühnen Deutschlands entwickelt

Wenn Anspruch Erfolg haben soll, gilt es Behutsamkeit und Schärfe zu verbinden

von TILL BRIEGLEB

Die besten Militärstrategen (von Clausewitz, Liddell Hart) und die meisten deutschen Terroristen (Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof u. a.) sind Kinder der christlichen Theologie. Als Pastorenkinder oder Klosterschülerinnen lernten die einen das kühle Management des Krieges, die anderen die totale Rebellion. Doch neben seinen konfrontativen Tendenzen kennt das Christentum ja auch den Gedanken der Versöhnung. Ein kluger studierter Theologe wie Ulrich Khuon kann an einem geschützten Ort wie dem Hamburger Thalia-Theater Strategie und Aufstand so weit annähern, dass daraus eine belebende Kraft entsteht – die ihm und seiner Kunstarmeefraktion dann die Brust mit Orden bekleckert.

Unangefochten zum Theater des Jahres gewählt, mit drei Inszenierungen zum Berliner Theatertreffen eingeladen, Sieg beim Mülheimer Dramatikerpreis für Armin Petras’ Thalia-Inszenierung „zeit zu lieben, zeit zu sterben“ sowie diverse Auszeichnungen für die jungen Schauspieler des Hauses (Susanne Wolff, Fritzi Haberlandt, Felix Knopp) – die Fachwelt meint es gut mit dem Thalia.

Und weil nach drei Jahren Intendanz das Haus auch noch proppevoll ist, gelingen dem Intendanten Khuon sogar kulturpolitische Überraschungssiege wie die Subventionserhöhung von einer Million Euro mitten in der größten Finanzkrise der Kulturpolitik. Kein Zweifel: Das Thalia ist momentan die Konsens-Moralanstalt des deutschen Theaters. So muss man es machen, wenn Anspruch Erfolg haben soll: mit behutsamer Kriegsführung und verständiger Schärfe.

Diese Doppelstrategie äußert sich zunächst darin, dass es im Thalia keine wirklich Radikalen gibt – keinen Castorf, keinen Marthaler, keinen Kresnik. Auch modische Effekte und Stilismen haben keine prägende Kraft. Überhaupt fehlt der Alleinvertretungsanspruch einer Ästhetik, ein Bekenntnis zum künstlerischen Hausdialekt. Von Armin Petras’ melancholisch-wilden Collagen über seine verlorene Heimat DDR bis zu Stephan Kimmigs psychologisch präzisen Studien einer bürgerlichen Welt ist es theatersprachlich ein sehr weiter Weg. Im rechten Winkel zu beidem denkt Michael Thalheimer, wenn er Klassiker für seine pessimistischen Thesen vom empfindungskranken Zeitgeschöpf skelettiert. Und das Schauspielertheater des Andreas Kriegenburg schließlich wechselt die Stile mit den Stoffen und befriedigt das Bedürfnis nach Opulenz.

Salzig, bitter, scharf und süß – die Thalia-Hausmarken gibt’s für jeden Geschmack. Und dennoch findet sich bei den diversen Regisseuren ein starke Gemeinsamkeit. Ein erstaunlicher dramaturgischer Instinkt sorgt dafür, dass der Zuschauer in der Regel ein Anliegen spürt und begreift, warum ein Regisseur sein Stück erzählen möchte. Ob Vinterbergs Inzest-Horror „Das Fest“ von Stephan Kimmig in einem beklemmenden Realismus eingefangen wird, Thalheimer „Woyzeck“ zu einer Serienkillerpsychologie umdeutet oder in der kleinen Nebenspielstätte in Ottensen an der Gaußstraße Nachwuchstalente wie Annette Pullen oder Stephan Rottkamp unverkrampfte Reifezeugnisse ablegen – die Grundlage des dauerhaften Erfolgs findet sich immer in der schlüssigen Kombinatorik von Stück, Regisseur und Ensemble. Im deutschen Theater des Spielplanzwangs eine durchaus bewundernswerte Rarität.

Die Akteure dieses notwendigen Befreiungskampfes los von den Fesseln der Konvention und dem saturierten Unterhaltungstheater, die in den Jahren Flimm-Intendanz am Thalia die Erneuerung am Boden hielten und den Theaterbesuch zu einer endlosen Familienfeier treuer Abonnenten machten, bedienen sich dabei durchaus Guerilla-Methoden. Während der Spielplan auch seit Khuons Antritt im Jahr 2000 stets vertrauenserweckend aussieht – Klassiker im Großen Haus, Experimente in der Gaußstraße –, fordern die besten Inszenierungen mit konfliktreichen Konzepten immer wieder heftige Publikumsreaktionen.

Sogar zum Miniskandal langt die bedachte Modernisierung der Theatermittel gelegentlich. Erinnert sei hier an Klaus von Dohnanyis öffentlichen Protest gegen Thalheimers „Liliom“-Inszenierung („Das ist doch ein anständiges Stück!“) oder die Angriffe des FAZ-Kritikers Gerhard Stadelmaier, der an seiner isolierten Stellung als Feind alles Neuen mittlerweile so schwer trägt, dass er glaubt, die Schauspieler des Thalia mit persönlichen Beleidigungen abfertigen zu müssen. Angefeindet werden dabei in der Regel Interpretationen, die sich eine starke Haltung zu Eigen machen, für die sie lieb gewonnene Erzählstrukturen opfern. Insbesondere Thalheimer, der Textvorlagen mit radikalen Kürzungen Gewalt antut, die er dann mit starker Körperlichkeit choreografisch auf der Bühne thematisiert, reizt immer wieder bildungsbürgerliche Beißreflexe. Aber auch Armin Petras’ fragmentarische und oft unbekümmert jugendhafte Erzählweise ärgert die Neugierlosen.

Dass die geduldige und ausgleichende Kompromissarbeit der Leitung solche Reizungen dann wieder mit Streicheleinheiten wie der Operette „Im Weißen Rössl“, der Filmadaption von „Kinder des Olymp“ oder „Cyrano“ besänftigt, sorgt abseits der überregionalen Aufmerksamkeit für Sympathie beim Publikum, das sich in seinem Ablenkungsbedürfnis ernst genommen fühlt. Natürlich geht auch gelegentlich etwas Spektakuläres total in die Hose, wie die fürchterliche Macho-Riefenstahl-Ästhetik von Tomaz Pandur bei seiner Adaption der „Göttlichen Komödie“.

Doch die Offensive beginnt in der Verteidigung, und derartige Pakte mit den Sehgewohnheiten der Event- und Unterhaltungskultur ermöglichen es dem Thalia eben auch, ins Ungewisse zu investieren. Die aus Hannover mitgebrachten Autorentage, ein gerade absolviertes Treffen von Studierenden der deutschsprachigen Regie-Institute oder die rege Ansetzung von Ur- und deutschen Erstaufführungen zeugen von der großen Verantwortung für das zeitgenössische Theater. „Dog eat Dog“ von Nuran Calis (Regie: Annette Pullen), „Lantana“ von Andrew Bovell (Stephan Kimmig) und an diesem Samstag „Unschuld“ von Dea Loher (Andreas Kriegenburg), die nächsten drei Premieren, erblicken alle im Kreißsaal Thalia das Licht der deutschen Bühnen.

In allen drei Stücken geht es um die schwachen Bindungskräfte in einer postsolidarischen Gesellschaft. Dreimal Fragmente über das Vereinzeltsein, das Glücklose, die deprimierende Selbstauszehrung, wie sie Menschen erleben, denen der Halt von gesellschaftlicher und emotionaler Sicherheit fehlt. So leiden bei Nuran Calis Jugendliche in einer Bielefelder Hochhaussiedlung sowohl an ihren Sehnsüchten wie an den Empfindungen emotionaler Kälte; in Dea Lohers trauriger Bestandsaufnahme einer vielfach entwürdigten Welt stranden illegale Immigranten, blinde Stripperinnen und Philosophinnen ohne Hoffnung in einer Stadt am Meer; und Bovells 2001 als „Lantana“ verfilmtes Stück „Speaking in Tongues“ begleitet den Detektiv Leon Zat auf der Suche nach einer verschwundenen Frau, bei der er lauter einsame Hilferufe und scheiternde Beziehungen findet.

Die skeptischen und pessimistischen Kräfte, die in dieser Dramaturgie gebündelt werden, erblicken ihr Gegengewicht zwar in den diversen unterhaltenden Abenden, für die sich vor allem Kriegenburg, Michael Talke und der Musikchef Erik Gedeon verpflichten, aber dennoch bilden sie den argumentativen Kern der Spielpläne. Nicht Krisengejammer wird hier illustriert, sondern die neuen persönlichen Konflikte in einer Gesellschaft, die Selbstständigkeit und Stärke zur Bringschuld ihrer Mitglieder erklärt, findet in vielen Thalia-Stücken und -Inszenierungen ein kritisches Forum. Der politische Aufstand der Thalia-Kreativen heißt Innehalten.

Diese leicht introvertierte Grundhaltung korrespondiert trotzdem erstaunlich gut mit einem außergewöhnlich spielfreudigen und vielfältigen Ensemble. Die sorgfältige Zusammensetzung aus Stars der Flimm-Zeit, die eine neue Herausforderung anzunehmen bereit waren (Christoph Bantzer, Hans Christian Rudolph, Victoria Trauttmansdorff oder Sandra Flubacher), mit vielen jungen und neuen Schauspielern, von denen einige hier zu kleinen Stars wurden (neben den Preisgekrönten etwa Maren Eggert, Norman Hacker, Peter Jordan, Hans Löw oder Peter Kurth) schuf ein großartiges Drei-Generationen-Ensemble, das wesentlichen Anteil an den vielen Handschriften hat.

Nun bleibt es abzuwarten, wie sich die neue Thalia-Gemeinschaft im Jahr nach dem totalen Triumph bewährt. Michael Talke hat dem Erfolgsdruck schon nicht standgehalten und zur Saisoneröffnung im Großen Haus eine „Emilia Galotti“ mehr kundgetan als inszeniert. Und auch der Start in der heimlichen Hauptstadt des Thalia – der kleinen Experimentierstätte in der Gaußstraße, wo sich Jung und Anders ausprobieren darf – war kaum der Rede wert. Dimiter Gotscheff, einen der ganz wenigen altgedienten Regisseure, die am Thalia inszenieren, überfiel bei Becketts Prosastück „Der Verwaiser“ die hemmungslose Sehnsucht nach holprigem Studententheater der Sechzigerjahre.

Es war Michael Thalheimer überlassen, mit dem Skandal-Echo aus Salzburg im Rücken, wo man seine blutige „Woyzeck“-Pathologisierung als künstlerischen Terror empfand, die Hausehre zu retten. In einem verschlossenen Zinkkubus von Olaf Altmann inszenierte er die destruktive Gedankenwelt des Opfers Woyzeck (Peter Moltzen) und seine scheinbare Unberührbarkeit als mörderische Täterstruktur.

Das krankhafte Unvermögen zu kommunizieren und einfache Bedürfnisse erfüllt zu bekommen, eint Woyzeck hier mit all seinen Bezugspersonen. Marie, Hauptmann, Doktor und das Erbsen fressende Versuchskaninchen leiden nicht an Machtstrukturen, sondern an sich selbst. Da erhält dann der unvermittelte Gewaltakt einer verzehrenden Fantasie die Logik einer Gesellschaftsdiagnose. Schwupp, schwupp, schwupp, schlitzt der Kurzgeschlossene die Kehlen all jener auf, die ihm so gleich geworden sind. Die Hemmschwelle zur Vernichtung sinkt anders als im Krieg nicht durch die Distanz, sondern in der unerträglichen Nähe.

Doch trotz literweise Theaterblut, extrem verknappter Textreste und des zügigen Endes nach 75 Minuten blieb der Skandal in Hamburg aus. Die Erinnerung an Schmerzgrenzen wird im Thalia mittlerweile erwartet. Die Strategie des sanften Terrors scheint also auch weiter Erfolg zu versprechen.

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