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Das olympische Dorf

aus Leipzig THOMAS GERLACH

Der Mann, der dort neben der Alten über die Straße tippelt, weiß nichts von Olympia. Manfred Jäger* wird nie erfahren, dass Leipzig die Spiele haben will. Dabei wäre das nach seinem Geschmack, doch Jäger kriegt nichts mehr mit, sein Gehirn ist kaputt. Er tippelt neben seinem dürren Mütterchen, das Gesicht zugewachsen, nur die Nase stakt heraus – umnachtet wie Nietzsche in Weimar.

Jäger hat gestrahlt, als die Wende kam. Am 1. Mai 1990 hängte er Deutschlandfahnen aus den Fenstern wie Brokat, und mit dem ersten Westgeld holte er sich einen Benz. Helle muss man sein und fleißig, der Chauffeur wandelte sich zu einem Taxi-Unternehmer, und Mutter strahlte. Das Glück stand auf der Straße und hatte 100 geschmeidige PS. „Wir sind ein Volk!“, hat Jäger geseufzt und den Gang eingelegt. Er war 40 und lebte in Leipzig-Lindenau, dem Stadtteil wo die Linden wachsen. Aber was, wenn zu viele Taxis rollen? Mehr arbeiten, sagte Manfred und fuhr Tag und Nacht. Aber was, wenn die Frau in den Westen abhaut? Noch mehr arbeiten, knirschte Manfred, fuhr noch weiter, noch länger, soff Kaffee und rauchte sich die Gedanken stangenweise aus dem Kopf.

Ein Klempner hat ihn im Flur gefunden – Herzstillstand. Um ein Haar wäre er vor elf Jahren gestorben, aber er lebt und tippelt mausetot neben seiner Mutter und stiert so gütig, als habe er Gott gesehen. Lindenau ist ein gescheiterter Ort. Linden wachsen längst woanders.

Ein gescheiterter Ort? Aufpassen, dass das Christina Weiß nicht hört! Wenn die 34-Jährige anfängt zu reden, stürzen Dächer ein. Als Manfred Jäger sein Taxi durch Leipzig hetzte, lebte Christina Weiß friedlich im Württembergischen, in Ellwangen an der Jagst. Vor sechs Jahren brach sie auf und kam mit ihrem Mann, einem Juristen, nach Leipzig – es war wohl auch Langeweile, die sie die Koffer packen ließ. Die resolute Frau hat kein Ohr für düstre Geschichten an diesem Nachmittag. In ihr Haus hat der olympische Geist seinen hiesigen Stellvertreter geschickt. Wo dessen Dienstwagen in der Sonne schmort, werden die 16.000 Sportler und Offizielle vom olympischen Dorf zum Stadion radeln, vom einen Ende Lindenaus zum anderen, immer vorbei an dem lehmgelben dreigeschossigen Haus, in das jetzt jede Menge Leute einziehen möchten, aber nicht können, weil das Haus schon voll ist.

Wo Bier keinen Euro kostet

Vielleicht hundert Leute sind gekommen in den Hof des Hauses, das an diesem Tag eingeweiht wird. Christina Weiß, Vorsitzende des Lindenauer Stadtteilvereins, begrüßt Bürgermeister Wolfgang Tiefensee, und der bleckt die Zähne, als kraulte ihn jemand. Umringt von Kindern und Erwachsenen glänzt er übers ganze Gesicht, nur der Mann, der das Schwein brät, glänzt noch mehr. „Ich komme eigentlich nur, um Ihnen zu gratulieren!“ Solche Tage sind Feiertage. Da machen die Bürger was, und der Bürgermeister kommt, weiht ein, spricht Grußworte oder schnippelt ein Bändchen durch. „Mir ist wichtig, dass die Stadtteile nicht auseinander driften.“ Eine warme Radiostimme, Tiefensees Sendung hieße „Wir gratulieren!“ oder „Mach mit!“ oder eben: „Sie sollen wissen, dass wir die Balance halten: dass wir international wettbewerbsfähig bleiben und den Kontakt zu den Leuten nicht verlieren!“

Christina Weiß steht neben dem OB in T-Shirt und gestreifter Hose und hat ihren Sohn an der Hand. Sie und ein paar andere Leute haben ganz offiziell ein Mietshaus okkupiert und nach ihrem Gusto saniert – inklusive 2.000 Quadratmeter Garten und Wiese – im totesten aller halbtoten Stadtteile, in Lindenau, wo Peter Eisenman den Olympiapark bauen will.

Dächer sind eingestürzt: Wo Gras wächst, Tomaten grünen und das Schwein sich knusprig dreht, war die Halle des VEB Folimat und davor die Meiselbach-Werkzeugmaschinenfabrik – von hundert Jahren Aufschwung blieben gusseiserne Säulen, Fässer mit zweifelhaftem Inhalt und schmierige Böden. Das nahm keiner geschenkt. Christina Weiß und ihre Freunde vom Stadtteilverein haben’s genommen, eine Idee gehabt und die Behörden und Bauträger langsam auf ihre Seite bekommen: das Amt für Stadtentwicklung und Wohnungsbauförderung, die Wohnungsbaugenossenschaft „Pro Leipzig“, die Sparkasse, das Arbeitsamt, das von ABMlern die Industriebrache abräumen ließ, das Regierungspräsidium und den Stadtbaurat, die die ABM-Entsendung auf ein privates Grundstück abnicken mussten. „Ein ziemliches Gedöns, bis es soweit war, alles in allem zwei Jahre“, sagt Christina Weiß.

Das Gedöns trägt Früchte. Von der Fabrikhalle liegen nur noch Säulen in Stapeln nahe am Grill. Das Haus ist fertig. Nun kommen Bitten: Wir würden gern einziehen! – Selber machen! ruft Christina Weiß dann, die Wohnungsgenossenschaft „Pro Leipzig“ hilft bestimmt.

„Pro Leipzig“ ist keine städtische Geldverteilungsmaschine, sondern eine Hand voll Handwerker, die keine Aufträge mehr bekamen, sich zusammenschlossen, Häuser kauften und selbst als Bauherren auftraten. Da hat man besonders Erfolg, wenn man die künftigen Mieter fragt, wie sie wohnen wollen. Wenn die mithelfen, bleiben sie garantiert länger als ein Jahr, und wenn die Kinder einen halben Fußballplatz mit Sandkasten, Burg und Theaterbühne haben, bleiben die bis zur Volljährigkeit.

Die Handwerker stehen mit ihren Papptellern beim Schwein, der Koch legt kunstvoll Fleisch auf Kraut, nur ABM-Vorarbeiter Ralf Domann wartet bei den Fotos vom Abriss, die auf der Wiese ausgestellt sind. Domann geht erst, als er allen erzählt hat, dass er dabei war – und die Zusage hat, dass er Abzüge kriegt für die nächste Bewerbung. Es muss ja nicht immer Olympia sein. Lindenau hat keine Jobmaschine, kein BMW- und kein Porschewerk wie der Norden der Stadt. Lindenau hat den Reha-Service Hecht, die Secondhand-Abteilung „Secondino“ und „McStorch“, wo Bier, null vier, keinen Euro kostet.

Marken hat einzig Manfred Behr. Briefmarken. Behr steht in seinem Laden am Lindenauer Markt und stützt sich auf die Theke. Neulich stand ihm Wolfgang Tiefensee hier gegenüber. „Ein guter Bürgermeister!“ Ein Philatelist? „Nein, er hat die neue Ladeneinrichtung eingeweiht. Ich habe für neue Theken und Beleuchtung Geld bekommen.“

Der EU-blaue Zuwendungsbescheid über Mittel des Förderprogramms Urban II, groß wie ein Kuchenblech und schön wie eine Sondermarke, ist das Prunkstück im Schaufenster: „Modernisierung des Ladeninnenraums, der Raumbeleuchtung und der Ausstattung.“ Jetzt flimmern die Lampen wie Flutlicht, doch Behr lässt sich nicht blenden. Das mit Olympia sei Geldverschwendung. Dennoch – dem Bürgermeister gönne er den Erfolg.

Behr hat sogar eine Jobidee. Mehrmals wöchentlich bekomme er Alben, manche auch von den Gerichten, um sie zu bewerten. Er habe dazu keine Zeit, aber das wäre eine wenig anstrengende Tätigkeit, nach einer Einarbeitungsphase könne das jeder, schließlich gebe es Kataloge. Wie viel verdient man denn? Nun ja, sagt Behr nach einer Pause, ein kleiner Nebenverdienst sei drin. Er selbst werde den Laden bald übergeben und nur noch Rentner sein. Ein Mann ist gekommen und redet plötzlich von Saug- und Tauchpumpen – ein Klempner. Im Keller gluckst Wasser, nicht gut für Lampen, Mensch und Marken. Behr richtet sich auf. Das Wasser ist die Gegenwart, dann kommt die Fußball-WM, und 2013 hat das Völkerschlachtdenkmal, das größte Monument Europas, hundertsten Geburtstag. Und vorher Olympia. Vielleicht. Draußen rattert die Elektrische vorbei, tschechische Tatra-Wagen, laut wie Panzer.

Wo Diplomaten Eichen pflanzen

Behrs Job ist nichts für den Vorarbeiter Ralf Domann. Die Dinge müssen zueinander passen – wie bei Christina Weiß und Lindenau. Die Einweihung ist vorbei, die Tomaten sind rot. „So ein Projekt wäre im Westen nicht denkbar“, sagt Weiß. „Es gibt dort nicht diesen Leerstand.“ Letztes Jahr sei die oberste Stadtplanerin von New York bei einem Workshop in der Stadt gewesen, Thema: Leipzig im Jahr 2030. Sie habe vom Umbau in der Bronx erzählt. „Die wussten nicht mehr, was sie machen sollten, und haben sich gedacht: Fragen wir doch mal die Leute, die da wohnen!“

Lindenau ist ein Experiment. Altes wird abgerissen, Neues entsteht, Lücken bleiben, neue Sichtachsen überraschen, neues Grün ebenso, „perforierte Stadt“ heißt das nun. Hier wird die verschrumpelte Stadt mit all ihrem Mist einfach umgegraben. Christina Weiß ist sich sicher: Lindenau hat Chancen, mehr als das angrenzende Plattenbauviertel Grünau. Dort fahren täglich Möbelwagen hinaus, manche halten in Lindenau, zentrumsnah, preiswert und geräumig.

Während Christina Weiß erzählt, dass der Stadtteilverein demnächst mit „Pro Leipzig“ eine Blockentwicklungsgesellschaft gründen will, um gemeinsam die Olympiatrasse Lützener Straße anzupacken, parliert Wolfgang Tiefensee auf Französisch und ruft Johannes Rau und einen ordentlichen Haufen Diplomaten zu den Spaten. Sie waren bei BMW und bei Porsche, sie waren auf der Messe und in der Thomaskirche – Fahrt ins Blaue für Diplomaten in das europäische Leipzig. Im offiziellen Olympiawald am Stadion pflanzen sie eine Eiche. Tiefensee hat den Tross an Lindenau vorbeigelotst als könnten sich die Exzellenzen vor dem gewesenen Taxifahrer Manfred Jäger und dessen spindeldürrer Mutter ängstigen. Sie hätten ruhig kommen und ein paar Linden pflanzen sollen. Linden sind besser als Eichen.

* Name geändert

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