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Die Beine tanzen immer weiter

Der jüdische Tänzer Sylvin Rubinstein wurde als Dolores zu einem Flamenco-Star der 50er Jahre. Die Geschichte, die dahinter steckt, ist so abenteuerlich, dass man sie kaum glauben kann. Doch sie ist wahr: Autor Kuno Kruse über die Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm „Er tanzte das Leben“

von Kuno Kruse

Ein Jude, der als Frau tanzte, weil seine Schwester von den Nazis ermordet wurde. Und der von einem Major der Wehrmacht erzählte, der aus einer Theatergruppe einen Widerstandskreis aufbaute, der jüdische Kinder bei polnischen Nonnen versteckte und gemeinsam mit Partisanen gegen die Nationalsozialisten kämpfte. Fallschirmagenten, Sender, Attentate – das war doch Kino, wovon der alte Mann da redete. Ich konnte es nicht glauben.

Das war vor fünf Jahren, als ich etwas über die Legenden von St. Pauli schreiben wollte, und mein alter Freund Fritz Hansen, der viele von den Alten aus seiner Arztpraxis kannte, sagte: „Komm mit zu Dolores.“

Da saß ich in der Küche dieses Tänzers, der in seinen Erzählungen Atemlosigkeit entstehen lässt und Trauer, unter der er selbst zusammenbricht. Der den Glanz des Berliner Varietés zurück beschwört und die tote Kinderhand in dem Loch in der Mauer des Warschauer Gettos. Der von dem Friseurladen erzählt, durch den er mit seiner Schwester Maria aus den Getto entkam; von dem Abschied auf dem Warschauer Bahnhof, als seine Schwester nach Osten fuhr, um die Mutter zu holen, seine Frau und die Kinder – er sah sie niemals wieder. Der von dem deutschen Offizier spricht, der ihn aufnahm, versteckte, in den Widerstand einband. Und dann zieht der Tänzer die gefälschten Papiere aus einer Zigarrenkiste, mit denen der deutsche Major ihn 1942 nach Berlin schickte, wo er in dessen Wohnung versteckt lebte.

Szenen, die einander überdecken, unauslöschliche Bilder, die ihn quälen, nicht schlafen lassen und jede Chronologie zerreißen. Nur langsam ist aus dem Zuhören bei mir Verstehen geworden. So ist in vielen Tagen und Nächten ein Buchmanuskript daraus entstanden.

Und ein Film, denn dieses Schicksal rief nach Dokumentation. Zusammen mit dem erfahrenen polnischen Filmer Marian Czura gingen wir auf die Reise durch ein gelebtes Leben. Rubinstein sah das galizische Stedtl wieder, in dem er mit seiner Zwillingsschwester Maria aufwuchs und in dem heute kein Jude mehr lebt. Wir folgten den Tourneen des Tanzpaares nach Berlin, Lemberg, Warschau. Dort standen wir vor der Kirche, vor der Rubinstein gestanden hatte, 1940, als der deutsche Offizier auf ihn zu ritt und fragte: „Sind sie nicht der Tänzer aus der Scala in Berlin?“ Eine Begegnung die zum Schicksal wurde. Und wir gingen durch die kleine Stadt Krosno in Südpolen, in der der verfolgte Jude zum Kämpfer wurde.

Immer wieder brach Rubinstein aus, stieß die Kamera um, die er nicht ertragen konnte, haderte mit uns, die wir ihn immer wieder seinen Erinnerungen aussetzten, meinte Misstrauen zu spüren, wenn wir immer wieder nachfragten. Und wir schämten uns für unsere Zweifel, als wir beim Drehen auf Zeitzeugen stießen, die uns über den Tänzer erzählten, was der längst vergessen hatte oder lieber verschweigen wollte.

Da war der Werkstattmeister, bei dem Rubinstein zum Tee kam, und jedes Mal um ein paar Granaten feilschte. Da war die Tochter des Partisanen, der vier SS-Männer erschoss, die Rubinstein mit einem Sender erwischt hatten; da war der inzwischen alt gewordene Junge, der mit Rubinstein nachts die Lebensmittel an der Straße versteckte, dort, wo morgens die ausgehungerten jüdischen Kolonnen Steine schleppen mussten. Da waren die Nonnen aus dem Waisenhaus, die von den versteckten jüdischen Kindern erzählten. Da war die Dame, die die Tür öffnete, Rubinstein sah und sagte: „Wir haben 60 Jahre auf Sie gewartet.“

Wir gingen durch ein polnisches Dorf, in dem die Alten ihren Enkeln noch von dem Artisten erzählen, der die Juden auf den Dachboden brachte und sich genierte, sich vor der Kuh im Stall nackt zu waschen. Wir sprachen mit Zeitzeugen, die sich noch an die Farbe seiner Schuhe erinnerten und nach dem Major fragten. Dann stießen wir in Berlin auf alte Amateurfilme eines Kameraden des Majors, die die Truppe zeigen, die Bauernmärkte, die Nonnen mit den Waisenkindern; und die Juden der Kleinstadt, die zu Arbeitseinsätzen abmarschieren mussten. Und die Rubinstein zeigen, wie er 1942 in Frauenkleidern getarnt über den Marktplatz spazierte.

Und endlich fassten wir das Unfassbare. Der Mann, der Dolores war, wird nun 90. Die Bretter, die einmal die Welt bedeuteten, sind nur noch eine Tischplatte, auf die eine gnädige Nachmittagssonne ein warmes Scheinwerferlicht vom Hinterhof hereinwirft. Blaue Äderchen überspannen die Beine von Dolores. Sie ist fast so alt wie ihr Jahrhundert, und ihre Beine tanzen immer weiter.

Kuno Kruse ist Redakteur beim „Stern“. Sein Buch „Dolores & Imperio“ erschien bei Kiepenheuer & Witsch. Der Dokumentarfilm „Er tanzte das Leben“ läuft am Sonntag, 11 Uhr, im Hamburger Kino Abaton in Anwesenheit von Sylvin Rubinstein

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