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Seiteneinsteiger bringen frischen Wind in den Schulalltag

„Werde Lehrer in einem Jahr“ lautet in Holland der Slogan, mit dem seit 2000 Fachkräfte aus der Wirtschaft für den Schuldienst angeworben werden. Trotz pädagogischer Defizite vieler Seiteneinsteiger freuen sich Schulleiter über deren praxisorientierten Zugang. So manche jedoch wirft wieder hin

Englisch studiert, aber keine Didaktikscheine gemacht? Ein Diplom in Physik, aber noch nie vor einer Klasse gestanden? In Holland kein Problem. Seit Beginn des Schuljahres 2000/2001 läuft im Nachbarland der Versuch am lebenden Objekt. Mit dem Gesetz „Maatwerk voor morgen – perspectieven op een open onderwijsarbeidsmarkt“ (Maßarbeit für Morgen, Perspektiven auf einem offenen Bildungsarbeitsmarkt) hat das Bildungsministerium in Den Haag die Konsequenzen aus einem sich seit 1998 zuspitzenden Lehrermangel gezogen. Ziel ist es, Akademikern und Menschen mit langjähriger Berufserfahrung, die den traditionellen Ausbildungsparcours zum Pauker nie beschreiten würden, einen alternativen Weg zum Lehrerberuf zu eröffnen.

„Werde Lehrer in einem Jahr“, lautet der Slogan, mit dem seither Fachkräfte aus Industrie, Handel und Institutionen für den Dienst an Grundschulen, Berufsschulen wie auch an der Sekundarstufe I und II angeworben werden. Lehrer werden kann demnach jeder, der was Ordentliches gelernt hat und bereit ist, neben dem praxisbegleitenden Ausbildungsjahr (Sekundarstufe II: zwei Jahre) an einer pädagogischen Fakultät sofort ins kalte Wasser zu springen.

Am Anfang steht die Bewerbung auf eine offene Stelle. Wer als Wirtschaftsprüferin in einer Bank arbeitet, sich aber nach zehn Jahren von Zahlenreihen angeödet fühlt und lieber „einen Beitrag zur Ausbildung von Kindern und Jugendlichen“ leisten möchte, unterzieht sich einem Eignungstest, dem so genannten assessment. Der soll Aufschluss darüber geben, ob sich die Kandidatin für den Lehrerberuf eignet und welche schulischen und sozialen Kompetenzen noch zu stärken sind. „Jeder, der nicht gerade kleine Kinder frisst, besteht das und wird genommen“, erzählt Renate Schmitz (46), die in Berlin Germanistik sowie im Nebenfach Niederländisch studiert hat und über manch beruflichen Umweg zur Schule kam. „Richtig schwer dagegen ist, den Schulalltag mit den Anforderungen der sehr prätentiösen Zusatzausbildung in Einklang zu bringen“, meint die gebürtige Kölnerin, die 2004/05 am Amsterdamer Fons Vitae Lyceum ein Jahr lang Deutsch unterrichtet hat.

Nach bestandenem assessment schließen Schule, Kandidat und PH einen Vertrag, in dem Unterrichtseinheiten, schulische Betreuung und Ausbildungsinhalte festgelegt werden. Die Schule, die den Seiteneinsteiger einstellt, erhält aus Den Haag Subventionen für die Betreuung. Die wird von erfahrenen Kollegen übernommen. „Es hängt sehr stark vom Kollegium ab, ob du als Quereinsteiger Fuß fasst“, sagt Renate Schmitz. „Ich hatte anfangs das Glück, von alten Hasen betreut zu werden, die mir die nötigen Tricks beibrachten und nicht lamentierten, dass ich als Unterqualifizierte fast sofort das gleiche Geld verdiente.“

Einer Studie (2004) zufolge sind in Holland neun von zehn Schulleitern zufrieden mit Leistung und Integration der Seiteneinsteiger. Obwohl es ihnen oft an didaktischem Know-how fehle und die Koordination zwischen Schule und Ausbildungsstätte noch zu wünschen übrig ließe, arbeiteten die Neulehrer praxisorientiert und brächten frischen Wind in den Schulalltag.

Inzwischen besetzen sogar immer mehr Seiteneinsteiger Schulleiterposten. „Die Arbeitgeber haben, zumindest was den technischen, administrativen und pflegerischen Ausbildungsbereich betrifft, lieber Leute aus der Praxis“, weiß Eric Ossenbrug, Referent beim Dachverband regionaler Ausbildungszentren in Utrecht. „Seit die Seifenblase IT platzte, ist das Interesse am Schuldienst groß“, sagt Ossenbrug. „Die meisten sind trotz finanzieller Einbußen zufrieden und bleiben dabei.“

An den Oberschulen hingegen werfen trotz Anfangseuphorie bis zu zehn Prozent bald wieder hin. Gründe sind Überfordertsein vor der Klasse und die zeitaufwändige Zusatzausbildung. Das Fons Vitae Lyceum im Amsterdamer Süden gilt als konservative Schule im besten Sinne, das Kollegium hat einen guten Ruf, die Schüler wollen lernen. Aber der Erfolg eines Seiteneinsteigers steht und fällt mit der Bewältigung der Doppelbelastung Schule und Qualifizierung. Der begleitende Studiengang enthält neben Fachdidaktik und allgemeiner Didaktik auch Trainings, die einem frühzeitigen Burn-out vorbeugen sollen. „Einmal die Woche musste ich zur Uni“, sagt Renate Schmitz. „Und an der Schule wurde ich sofort als Vollkraft eingesetzt, musste oftmals den Mangel ausbügeln.“

Nicht wenige Kandidaten kämpfen Monate lang mit dem Widerspruch zwischen Berufsalltag, den Anforderungen der Ausbildung und dem eigenen Anspruch. „Am ersten Schultag drückte man mir Bücher in die Hand, sagte, nehm diesen Stoff durch, so und so hat der Tag abzulaufen. Dazu bekam ich eine Namensliste mit 32 Pubertierenden, die es Scheiße fanden, dass sie jetzt wieder Deutsch hatten“, sagt mit leichtem Bedauern Renate Schmitz. Sie hat ihre Laufbahn nach einem Jahr beendet. HENK RAIJER

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