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Rentenreform: eine Schmuddelecke des Sozialstaats

■ Strukturreform der Rentenversicherung nicht in Sicht / Soziale Alterssicherung ein Windei / Vor allem alte Frauen benachteiligt / „Generationenvertrag“ in der Klemme / Herrschende Praxis der Ausfallzeiten (Studium, Arbeitslosigkeit, Kindererziehung) korrekturbedürftig / Ohne radikale Reform tickt die soziale Zeitbombe

Von Michael Opielka

Alle Jahre wieder steht die Rentenanpassung auf der Tagessordnung des Bundestages und Jahr für Jahr hat dieses Ritual den miesen Effekt, gerade die armen Alten, und das sind überwiegend alte Frauen, mit winzigen Erhöhungen ihrer Renten abzuspeisen. Auf dieser Linie liegt auch der Beschluß des Bundestages zur Rentenanpassung vom vergangenen Freitag. Wie durch die Bundesregierung zusammengerechnet wurde, bedeutet er eine effektive Rentenerhöhung um 3 1987. Da bis zu diesem Zeitpunkt noch die geringeren Anpassungsraten dieses Jahres gezahlt werden, kommt tatsächlich ein noch niedrigerer Satz zustande: im kommenden Jahr erhalten die Rentnerinnen und Rentner allenfalls 2,2 Die lineare Struktur der Anpassungen - will heißen, alle kriegen denselben Prozentsatz, allerdings berechnet auf kraß unterschiedliche Einkommen - ist ein grundsätzlicher Kritikpunkt. Die Auswirkungen sind sozial unverantwortlich, solange - zwei Drittel aller Rentnerinnen in der Arbeiterrentenversicherung eine Rente von weniger als 500 DM erhalten, - ein Drittel aller Rentnerinnen in der Angestelltenversicherung unter 500 DM bekommen, 55 % noch unter 800 DM, - und selbst bei den angeblich „überversorgten“ Doppelrentnerinnen, den Bezieherinnen einer Versicherten– wie auch einer Hinterbliebenenrente knapp die Hälfte, nämlich 47 samteinkommen von unter 1.000 Mark bezieht. Eine Rentenanpassung, die auf dieser Basis operiert, läßt den Kleinstrentnerinnen und -rentnern erheblich weniger zukommen als den Beziehern höherer Renteneinkommen und fördert so die soziale Ungleichheit. Diese Problematik blieb in der Debatte weitgehend ausgeblendet. Mit einer Position, die die Bekämpfung der Altersarmut und die soziale Umverteilung mit der Rentenfrage verknüpft, stehen die Grünen im Bundestag anscheinend allein. Einer nur in wenigen Detailfragen uneinigen Großen Koalition aus Sozialdemokratie, Sozialbeirat der Bundesregierung und Bundesregierung selbst ging es vorrangig um das Krisenmanagement eines desolaten Rentensystems bis ins nächste Jahrtausend. Bis zum Jahr 1990, so heißt es, sei noch alles in bester Ordnung. Die Renten könnten gezahlt werden. Doch hinter dieser Grenze geht es los. Da spricht der Sozialbeirat von einem absehbaren Defizit der Rentenversicherung von bis zu 200 Milliarden DM im Jahr. Solche Schreckensmeldungen erfüllen - ganz unabhängig von ihrem empirischen Gehalt - jedenfalls eine wichtige politische Aufgabe: Sie sollen das Volk, vor allem die Alten, gefügig machen. Sehen wir uns die Überlegungen der etablierten Sozialversicherungsszene näher an: Ihr erstes Lieblingsthema ist immer wieder die Bevölkerungsentwicklung. Im Jahr 2040 soll die Zahl der Bundesdeutschen angeblich auf ca. 40,7 Mio. gesunken sein, bereits 2020 wären es schon nur noch 51,8 Mio.. Damit würde sich der Altersquotient, d.h. das Verhältnis der über 60jährigen als potentiellen Rentenempfängern zu den 20– bis unter 60jährigen als potentiellen Beitragszahlern einschneidend verändern. Statt heute 36, müßten 100 Erwerbstätige im Jahre 2020 dann 59 Rentnerinnen und Rentner versorgen, der sogenannte „Generationenvertrag“ wäre geplatzt. Diese demographischen Kassandra–Rufe zeichnen aber kein unausweichliches Schicksal vor. Die in der BRD lebenden Ausländer und vor allem deren Kinder werden bei der Berechnung ausgeblendet, und bei „kinderfreundlichen“ Arbeitsbedingungen könnte auch die bundesdeutsche Frauenerwerbsquote noch deutlich ansteigen. Neuere Modellrechnungen der TU Berlin belegen, daß eine Erhöhung der Frauenerwerbsquote die negativen Auswirkungen beim Wandel der Bevölkerungsstruktur bis zum Jahre 2023 völlig kompensieren können. Ein zweiter Aspekt ist der Bundeszuschuß an die gesetzliche Rentenversicherung. Er betrug im Jahre 1957 noch 32 . Bei Beibehaltung des gegenwärtigen Trends würde er langfristig weiterhin auf etwa 11 bis 12 sinken. Das heißt: Der Bund und damit die Gemeinschaft aller (v. a. der potenteren) Steuerzahler zieht sich immer mehr aus der sozialen Verantwortung heraus. Schon seit Jahren fordert die Selbstverwaltung der Gesetzlichen Rentenversicherung eine deutliche Erhöhung des Bundeszuschusses - der Sozialbeirat spricht bescheiden von 20 1990 - sowie seine Anbindung an die Entwicklung der Rentenausgaben und nicht wie heute an die (stagnierende) Lohnentwicklung. Ein dritter notwendiger Reformpunkt ist die Frage der Ausfallzeiten, in denen die Versicherten keine Beiträge an die gesetzliche Rentenversicherung gezahlt haben, z. B. Studium, Arbeitslosigkeit, Kindererziehung. In allen drei Fällen ist die herrschende Praxis korrekturbedürftig: Die Anrechnung der Kindererziehungszeiten ist unzureichend und die zynische Spekulation mit dem Ableben der betroffenen Frauen bei der stufenweisen Gewährung des Rentenzuschlags ein Skandal; die Überschüsse der Bundesanstalt für Arbeit sollen den Leistungsempfängern zugutekommen und nicht durch Umleitung in den bundesfinanzierten Arbeitslosenhilfe–Topf zur Sanierung des Bundeshaushalts mißbraucht werden; das Problem der Ausfallzeiten durch Ausbildung muß überhaupt erst in die öffentliche Diskussion gebracht werden. Besonders delikat ist viertens der Vorschlag des Sozialbeirats zur Heraufsetzung der Altersgrenzen auf mindestens 65 Jahre. Nach der Vorruhestandspolitik der ersten Jahre, jetzt also „Kommando zurück“? Bereits heute beziehen 25 Erwerbs– oder Berufsunfähigkeitsrente. Den Soziademokraten ist die Phantasie durchgegangen. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die seitens der Bundesregierung, der ihr nahestenden Wissenschaftler sowie der SPD vorgetragenen Vorschläge zur „Strukturreform“ der Rentenversicherung die Fehlkonstruktion des deutschen Alterssicherungssystems, vor allem seine Privilegierungen (Beamte!) sowie die sträflich mißachtete Altersarmut in keinster Weise aufheben würden. Damit werden die Probleme des Rentensystemes auf die Schultern der heutigen Jugend abgewälzt. Sie muß ausbaden, was die Rentenpolitik der Etablierten seit Jahren versäumt hat: ein sozial gerechtes System zu schaffen. Niemand kann ohne wirklich neue Ansätze das Rentenproblem lösen. Das bedeutet: Es ist erforderlich, um des sozialen Ausgleichs willen, sich zumindest teilweise vom beitragsfinanzierten Rentensystem abzukehren. Der Vorschlag der Grünen, eine Rentenreform mit dem Ziel einer steuerfinanzierten Grundrente - mit einem Niveau von mindestens 1.000 DM pro Person - sowie einer darauf aufbauenden betragsfinanzierten Zusatzrente würde viele dieser Probleme lösen können.

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