Chirac begräbt konservative Reformpläne

■ Die Reformpause seit den Studentenprotesten wird zur offiziellen Politik auf Dauer / „Sozialer Dialog“ statt autoritärer Gesetze Festhalten an Plänen für private Gefängnisse und der Einsetzung von Direktoren in Grundschulen / Halbzeit in der „Cohabitation“

Aus Paris Georg Blume

„Wir haben turbulente Zeiten durchgemacht, wir haben die Demonstrationen der Studenten und Gymnasiasten gehabt, wir haben Streiks im öffentlichen Dienst gehabt, wir haben die Kältefront gehabt (...). Und einige Franzosen haben sich Fragen gestellt. Das ist normal, und ich habe sie verstanden.“ Mit diesen Worten leitete der französische Premierminister Jacques Chirac die mit Spannung erwartete zweite Pressekonferenz seiner Amtszeit am Donnerstag abend ein. Sechs Wochen nach der Verordnung einer Reformpause als Folge der Studentenunruhen im Dezember war für Jacques Chirac der Augenblick gekommen, die neuen Leitlinien der Regierungspolitik für das Jahr 1987 und damit wohl auch bis zum wahrscheinlichen Ende seiner Regierungszeit im Mai 1988, dem Zeitpunkt der nächsten Präsidentschaftswahlen, zu definieren.Der Premierminister zog in der Tat Konsequenzen aus den zurückliegenden „Turbulenzen“. Er erklärte die Reformpause nunmehr zur offiziellen Politik. Seine umstrittenen Projekte, wie das autoritäre Staatsbürgerschaftsgesetz, die Einführung der Zwangsbehandlung von Drogenabhängigen, die aufgegebene Universitätsreform - sie werden auch in Zukunft nicht auf der Tagesordnung des Parlaments stehen. Einzig am Bau privater Gefängnisse, in denen die Aufsicht der Gefangenen jedoch weiterhin staatlichen Beamten angetragen wird, und an der Einrichtung eines Direktorenpostens an den Grundschulen will die Regierung festhalten. Statt auf die Fortführung der neoliberalen Gesellschaftspolitik setzt Jacques Chirac nach seinen Worten auf die Erneuerung des „sozialen Dialogs“, ein Ausdruck, der sonst Francois Mitterrand teuer ist.Gleich sechs der zehn für das Frühjahr angekündigten Gesetzesvorhaben liegen im Bereich der Sozialpolitik: die Durchsetzung der vom Verfassungsrat aus Formgründen abgeschmetterten Arbeitszeitflexibilisierung, Maßnahmen für Langzeitarbeitslose, Erleichterungen für die Anstellung von Behinderten, ein Berufsbildungspro gramm, das die dreijährige Lehre als Ausbildung in den französischen Betrieben fördern soll. Die Pläne zur Einschränkung der Gewerkschaftsrechte scheinen begraben, statt dessen kündigte der Premierminister erstmals offizielle Gespräche zwischen Regierung und Sozialpartnern an. Jacques Chirac läutete gleichzeitig die Halbzeit der „Cohabitation“ ein, seiner Koexistenz mit dem sozialistischen Präsidenten an der Staatsspitze, und versprach: „Die Koexistenz wird zu Ende geführt werden, bis zu den kommenden Wahlen.“ Gemeint sind die Präsidentschaftswahlen im Mai 1988. Dann, so Chirac, werde man sich überzeugen, daß die Cohabitation nicht nur negative Effekte habe.