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■ Gorbatschow und die FolgenGroße Skepsis - Größere Hoffnung

I. „Ein Gespenst geht um in Europa, das Gespenst des Kommunismus...“ Mit diesem spöttischen Wort beginnt das Kommunistische Manifest von Marx und Engels. 140 Jahre später bleibt einem solcher Spott im Halse stecken. Das, was sich inzwischen unter diesem Firmenzeichen etabliert hat und von seinen Feinden auch genüßlich Kommunismus genannt wird, wurde schreckliche Wirklichkeit. Ein Kommunismus, vor dem sich die Arbeiter in Ost und West mehr fürchten als die munteren Kapitalisten. Ein Kommunismus, wie ihn die Bourgeoisie gern hat: abstoßend, blutig, ausbeuterisch und verlogen - gescheitert nach innen und außen. Wirkliche Kommunisten hatten es bisher überall schwer - aber nirgendwo werden sie so unerbittlich verfolgt wie in den Ländern, die sich mit der Fahne des Kommunismus schmücken. Unter Stalin wurden allein zwei Millionen kommunistische Kader ermordet. Und auch in der DDR wurde bisher niemand so wütend verfolgt wie grade die linke Opposition. II. Aber was ist nun los in Moskau? Was bedeutet dieser Gorbatschow? Ich bin kein Kreml–Astrologe. Das Exil schärft freilich den Blick, aber es fälscht ihn auch ab. Ich sage Exil. Und dabei weiß ich selber. Wer bloß von Deutschland nach Deutschland geschmissen wurde, fiel nicht so hart. Und wer, wie ich, dabei sogar in seiner Vaterstadt landet und bei der Mutter, der fällt weich und hat Glück im Unglück. Dennoch würg ich seit zehn Jahren an diesem komfortablen Exil. Das Herz hängt vertrakt an vertrauten Feinden wie an den alten Freunden. Und der Blick zurück tut weh. Also: nie wieder im ND mühsam zwischen den Zeilen lesen! Nicht Radio–DDR hörn! keine teure Hochantenne installiern fürs West..........????Ost– Fernsehen. Geiz als politische Produktivkraft. West–Berlin? - bloß schnell weg! Es liegt viel zu nah. Keinen Gedanken verschwenden auf das, worauf Du keinen Einfluß mehr nehmen kannst... das ist die politische Seelenökonomie. Aber nun dieser Gorbatschow. Und nun hab ich doch das ND wieder gelesen. Dabei ist jeder Blick nach drüben ein Schielen, ein hin und hergerissenes Wünschen. Ja ja, man wünscht es ihnen, es soll da endlich besser werden - aber insgeheim wünscht es in einem: es soll schlecht bleiben. Idiotischer Affekt. Man gönnt denen nicht das Bessere - warum? Vielleicht nur aus Eifersucht, nur, weil man nichts Gutes mehr zum Besseren tun konnte. III. Nun treibt die Hoffnung auf Michail Gorbatschow Blüten. Gemessen an all seinen Vorgängern, diesen verdorbenen Greisen, duftet Gorbatschow wie der junge Frühling. Das Wunschdenken steigt uns mächtig in die Nase. Ja, es riecht mal wieder nach Revolution, es duftet betörend nach Wahrheit. Aber im Geschichtsprozeß gehts nach der verworrenen Natur des Menschen - wir habens erlebt - da ist kein Verlaß auf Naturgesetze. Da geht morgens die Sonne unter. Und nach dem Prager Frühling kam direkt der lange Winter. Immer kam der Große Bruder, der Aufpasser. Mit seinen Panzern machte er die Arbeiterrevolte vom 17. Juni 53 kaputt. Er schlug den Aufstand der Ungarn 56 nieder. Im Verein mit seinen falschen Warschauer–Pakt–Brüdern konterte der Große Bruder 1968 die gutmütige Von–Oben–Revolution des Alexander Dubcek. Und als in Polen die erste klassische Arbeiterrevolution im katholischen Kostüm hätte siegen können, ließ der Große Bruder den polnischen General mit der Sonnenbrille die Dreckarbeit machen. Aber nun? In der Sowjetunion selbst kommen die Verhältnisse zum Tanzen. Es gibt keinen noch größeren Bruder mehr über dem Großen Bruder. Der neue Held auf dieser Bühne, Michail Gorbatschow, muß höchstens zittern vor denen, die unter ihm sind. IV. Alle reden von Gorbatschow, ich auch. Wird er? Will er? Kann er? Gorbatschow, so ein neuer Peter der Große. Gorbatschow, der Russe mit dem Napoleongesicht. Gorbatschow mit seinem archipelischen Muttermal auf der Stirn, das aussieht wie die Halbinsel Kamtschotko im fernsten Osten. Und so zeigt er sich im Westen: jung, dynamisch und belastbar, kontaktfreudig und kreativ, alle Managertugenden in einem Exemplar gebündelt. Viel jünger als sein Kontrahent im Weißen Haus, fixer, gewiefter, womöglich sogar ehrlich - und nicht nur mal wieder ein neuer Besen im alten Dreck. Michail Gorbatschow. Machen Männer etwa doch Geschichte - und nicht die Geschichte Männer? V. Im Zentralorgan der SED wurden in diesen Tagen zwei Reden von Michail Gorbatschow zitiert, kommentarlos abgedruckt, Dokumente vom Januar–Plenum des ZK der KPdSU. Ich hab mir die Augen gerieben und gelacht. Das klingt ja, als hätte mein Freund Robert Havemann aus seinem Grab in Grünheide frechfröhlich ein Kassiber ins ND geschmuggelt. Gorbatschow redet wie ein kommunistischer Dissident, er fordert für sein Land: - geheime Wahlen außerhalb, aber auch innerhalb der Partei - Nominierung mehrerer Kandidaten - und zwar von unten, nicht von oben - öffentliche Diskussion über alle öffentliche Angelegenheiten - Rechtssicherheit für alle Bürger: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft. Wenn wir dies nicht begreifen, und selbst wenn wir es begreifen, aber keine wirklichen ernsthaften Schritte...unternehmen, dann wird unsere Politik versagen, dann wird die Umgestaltung ersticken, Genossen.“ VI. Seit Stalin verkünden die Bonzen, daß der Sozialismus im Grunde gesiegt hat. Es ging immer nur noch um Verschönerungen des Arbeitsparadieses. Im Grunde blieb das so, auch nach dem aufregenden XX.Parteitag der KPdSU 1956. Nikita Chruschtschow mit seiner Geheimrede über Stalins Verbrechen. Als damals mit diesem poltrigen Glatzkopf die stalinistische Entstalinisierung begann, wurden die Arbeitslager des Archipel GULAG geöffnet. Aber warum? - sie waren nicht mehr rentabel. Das war die Zeit des „Tauwetters“. Die überlebenden Opfer, wurden rehabilitiert, man verzieh ihnen. Das System blieb. Dann, im Neostalinismus, kriegte man das Loch in die Lochkarte geschossen und seltener ins Genick. Und Andersdenkende gingen immer noch ab ins Lager! Ab in die Psychiatrie! Solche Zustände können nicht verbessert werden, denn sie sind grundschlecht. Im altmodischen Jargon des Marxismus hilft da nichts als eine Revolution. Und nun wird eben das proklamiert: Revolution nach der Revolution. Spät, aber vielleicht nicht zu spät - zu früh gewiß nicht: Siebzig elend lange Jahre nach der „Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“ - von der wir inzwischen wissen, daß sie weder groß noch sozialistisch noch eine Revolution war. Gefeiert wird dieser Sieg zudem am 7. November, denn es galt damals noch der zaristische Kalender. Das waren die Losungen, mit denen Lenins und Trotzkis Bolschewiki 1917 in Petrograd so leicht das zusammengebrochene Zarenreich beerbten: - Die Betriebe den Arbeitern! - Das Land den Bauern! - Friede den Völkern! - Alle Macht den Sowjets! Nicht eins von diesen vier Versprechen konnte bis heute eingelöst werden: - Die Betriebe den Arbeitern? Die „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ wurde abgelöst, ja, von einer Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Dem Volk gehört das Volkseigentum nicht. Es herrscht die Monopolbürokratie, eine neue Klasse aus Partei, Staat und Armee, Polizei und Geheimpolizei. Die Arbeiter sind noch brutaler ausgebeutet als bei den Kapitalisten. Und sie Können sich noch weniger in ihre eignen Angelegenheiten einmischen, sie haben nicht mal unabhängige Gewerkschaften. - Das Land den Bauern? Seit der Zwangskollektivierung 1930 wurden die Bauern Bürger zweiter Klasse. Sie kriegten keinen Personalausweis wie andre. Sie wurden zurückgestoßen in die Leibeigenschaft. Da sich in der SU jeder Bürger außerhalb seines Wohnsitzes nach drei Tagen polizeilich melden muß, waren diese Bauern praktisch an ihr Dorf gefesselt. Für eine Reise brauchten sie die besondere Genehmigung der Dorfobrigkeit. Es gab drei legale Möglichkeiten, das Dorf zu verlassen: Man wurde rekrutiert für Großbaustellen oder für die Armee - oder geriet ins GULAG. Erst unter Chruschtschow wurde diese Diskriminierung aufgehoben. Seitdem verwandelten sich diese realsozialistischen Leibeigenen zumindest in Landarbeiter. Ihre schlechte Lage ist mit der der LPG–Bauern in der DDR nicht vergleichbar. - Friede den Völkern? Die SU liefert in viele Länder der Welt Waffen. Nicht nur an Vietnam, sondern auch an reaktionäre Feudalstaaten. Sie schürt den Krieg im Nahen Osten aus machtpolitischen Interessen genauso zynisch wie die USA. Mit der Hilfe für Nicaragua überträgt die Sowjetunion alle ihre eignen sozialen und politischen Krankheiten auf dieses bedrohte Land. Insofern hat Nicaragua nicht nur einen natürlichen Todfeind, die Vereinigten Staaten, sondern auch einen natürlichen Todfreund. Die SU hat Finnland mit Krieg überzogen. Die SU ging zunächst gemeinsam mit Nazideutschland auf Raub aus. Stalins UdSSR hat gemeinsam mit Hitler Polen überfallen. Die SU hat nach dem Krieg die Hälfte Polens annektiert, so, wie sies vorher mit Hitlerdeutschland brüderlich ausgehandelt hatte. Die SU hat die baltischen Staaten annektiert. Die SU okkupierte die CSSR und erzwang dort eine Konterrevolution. Die SU führt seit Jahren einen blutigen Vietnamkrieg in Afghanistan und - davon redet keiner - in Äthiopien, auf seiten des linksgetünchten Faschisten Mengistou. Und die Völker der SU selbst werden in Kolonialmanier von der Zentralmacht in Moskau beherrscht. - Alle Macht den Sowjets? Die Sowjets (zu deutsch: die Räte) verloren gleich nach der Oktoberrevolution 1917 alle Macht, die sie bis dahin noch gehabt hatten an die Bonzen von Partei und Staat. Grade die Sowjets sind in der Sowjetunion liquidiert. Nichts wird von unten her beraten. Das Volk kann nichts wählen und schon gar nichts bestimmen. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nicht öffentlich verhandelt. Das politische Leben ist müde, die meisten Bürger haben es aufgegeben, sich in ihre eignen Angelegenheiten einzumischen. VII. Für dieses Elend gibt es historische Gründe und intelligente Rechtfertigungen. Objektive Ursachen und subjektive Fehler sind heillos vermischt. Michail Gorbatschow hat, als er antrat, eine bankrotte Riesenfirma übernommen. Bei dieser Mißwirtschaft ist die Arbeitsproduktivität so gering, daß die Rüstungsindustrie und die Armee dem Volk nicht nur die Butter vom Brot wegfressen wie im Westen, sondern auch noch das Brot selber. Als aus Ost und West die Lebensmitteltransporte nach Polen rollten, sagten viele Menschen in der SU: so arm wie die Polen möchten wir auch mal sein. In solcher Lage hilft kein ideologisches Handauflegen. Und damit jeder merkt, daß eine wirklich neue Zeit beginnen muß, und daß es nicht wieder mal nur um Make–up mit dem Vorschlaghammer geht, steht nun im ND: „Es geht im Grunde genommen um eine Wende und um Maßnahmen revolutionären Charakters...“ „Jetzt sind Taten und nochmals Taten erforderlich... Wir müssen handeln, handeln und nochmals handeln...“ Gut und schön. Aber auch schöne Worte sind Worte. In Moskau kursiert ein böses Wort: Ja ja, seit Gorbatschow hat sich viel bewegt: seine Lippen. VIII. Die gebrannten Kinder warten ab. Schon mancher neue Chef hat das Blaue vom Himmel und das Brot der Gerechtigkeit versprochen. Chruschtschow spuckte große Töne. Und Breschnew spuckte auf seinen Vorgänger. Stalin schiß auf Lenin, er hat fast das gesamte Leninsche ZK abschlachten lassen. In den Lagern des Archipel GULAG ließ Stalin an die 20 Millionen Sowjetbürger ermorden - und in der selben Zeit hielt er die schönsten Reden über sozialistische Demokratie und forderte schonungslose Kritik auch an höchsten Parteifunktionären. Das Volk ist bedrückt von all dem, aber es ist nicht blöd geworden, die Skepsis blieb groß. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen - steht in der Bibel. Also hier, ein paar Früchte: - Seit Gorbatschow wurden 50.000 Milizionäre vom Dienst Forstsetzung nächste Seite Fortsetzung– suspendiert. Offiziere und einfache Polizisten wurden geschaßt, weil sie kriminell verwickelt waren in das, was man im Osten ironisch den „zweiten Kreislauf der Volkswirtschaft“ nennt: Bestechung, Korruption, Schiebergeschäfte, Stehlerei und Hehlerei. - Korrupte Minister und andere hohe Funktionäre wurden wegen Ämterhandel, Wirtschaftsverbrechen, Großschiebung und anderer Heldentaten zum Tode verurteilt. Die Hinrichtungen wurden live im Fernsehen gezeigt. - Der Verkauf von Alkohol wurde zum ersten Mal mit radikaler Wirkung eingeschränkt. Mehrfach erwischte Schnapsleichen werden aus Moskau ausgewiesen. - Die Löhne der Arbeiter wurden gesenkt, und es wird schärfer nach Leistung bezahlt. - Die Eigenverantwortung der Betriebe wurde gestärkt. Der monströs große und schwerfällige zentrale Planungsapparat wird überflüssig, Abertausende Oberplaner verlieren ihren Job. - Überhaupt wird die seit langem verdeckte Massenarbeitslosigkeit ans Licht gezerrt. Die Betriebe rationalisieren und entledigen sich überflüssig gewordener Arbeitskräfte, die bisher mit durchgeschleppt wurden. IX. Als der gewaltige Herakles, Sohn des Zeus, den Auftrag hatte, in nur einem Tag die Ställe zu reinigen, die die Herden des Königs Augias jahrelang vollgeschissen hatten, schaffte er das mit einem Trick: Er lenkte den Lauf eines Flusses um, quer durch die Stallungen. Gemessen an dem, was Gorbatschow vorhat, war Herakles fünfte Heldentat ein Klacks. Wenn ich an Stalins blutige Säuberungen denke, sehe ich manches, was Gorbatschow bis jetzt säuberte, auch mit gemischten Gefühlen. In meiner Nase stinkt es nach Saubermann. Wenn ein ganzes Volk sich so krank säuft, bleiben ja die Ursachen, auch wenn die Wodkaflaschen konfisziert werden. Wenn Beamte so massenhaft korrupt sind, kommt man auf normalem Wege offenbar nicht zu seinem Recht. Wenn die Funktionäre sich wie Orwells Schweine verhalten, treibts die armen Menschentiere in allerlei Räusche und in jeden Schwindel. Schon als Herakles, der griechische Heros, noch in der Wiege lag, erwürgte er, als sie ihn fressen wollten, ein paar Riesenschlangen. Gorbatschow wird gegen die Krokodile des KGB und gegen die Haifische des militärisch–industriellen Komplexes antreten müssen. Der neue Drachentöter wird gegen Wanzen sich verteidigen müssen und gegen das gefährlichste Tier, den Menschen. Volk wie Führung sind gezeichnet von der chronischen Misere. Und er ist selbst geprägt. Jedes Mißtrauen gegen ihn ist doch begründet! Vielleicht ist dieser Mensch nichts weiter als die moderne Version des Drachen? Kann überhaupt einer, der in diesem Bestiarium Karriere machte, etwas Gutes bewirken? Demokratische Traditionen, an die man anknüpfen könnte, gibt es kaum. Die Macht der Gewohnheit ist vielleicht noch fürchterlicher als die Macht irgendwelcher Provinzkönige. In unserer rasenden Zeit ist ein Jahrhundert wie ein Tag. Gorbatschows Frist für diese Arbeit ist also noch knapper als die des antiken Helden, bei all der festgetretenen Scheiße. Brecht schrieb in seiner Ballade vom Wasserrad: Ach, wir hatten viele Herren / Hatten Tiger und Hyänen / Hatten Adler, hatten Schweine / Doch, wir nährten den und jenen. / Ob sie besser waren oder schlimmer / Ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer / Und uns trat er. Ihr versteht, ich meine: / Daß wir keine andern Herren brauchen, sondern keine. X. Keine Herren! Ein schöner Traum, unerreichbar. Aber wenn der nicht Wirklichkeit wird, geht nicht die Welt unter - nur eben wir. „Ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt; und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da wie ein mißratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß, und betrachtet die ärmlichen Pfennige, die ihm das Mitleid auf den Weg gab.“ Hölderlins Hyperion schrieb diese Worte an seinen Freund Bellarmin. Wir aber werden beides und immer zugleich sein müssen, Bettler und Gott. Ja, wir wollen das Träumen wieder lernen und dennoch das Nachdenken nicht verlernen. Du glaubst nicht, wie satt ich sie hab, diese abgemafften Linken, die coolen So–isses–eben– Athleten! Nicht entzückt, nicht entsetzt, sie wissen schon alles und wies ausgeht: schlecht. Aber ohne alle Begeisterung ist die bril lanteste Skepsis eitel und Haschen nach Wind. XI. Ich hoffe auf solche Menschen in der SU, für die in meinem Wunschdenken Gorbatschow steht. Ich hoffe, er hat das historische Kaliber, das wir alle brauchen, wenn das bißchen Menschheit überleben soll. Wird dieser neue Herr im Kreml ein Herr sein, der begriffen hat, daß jede Herrschaft, auch die des aufgeklärten Menschenfreunds ins Verderben führt? Hat er wirklich umgelernt, oder macht er nur neue Tricks? Ich kanns nicht wissen. Ich kann nichts herbeireden, nichts herbeisingen. Aber wenn es in der Sowjetunion so wird, wies jetzt möglich scheint, dann bliebe auch der Westen nicht wie er ist. XII. Was können wir hier tun, was lassen? Ich denke, wir helfen denen am besten, indem wir uns selber helfen: Einseitig abrüsten. Raus aus der alten Logik! Weg von der veralteten Moral: Auge um Auge, Zahn um Zahn, Bombe um Bombe. Nicht länger den Osten totrüsten! So hätte die Sowjetunion eine Chance, sie würde Kräfte frei kriegen, die sie für einen bescheidenen Wohlstand ihrer Brüger braucht und ohne den alle Demokratie nur ein Geschwätz bleiben muß. Wenn wenigstens das gelänge, wäre Gorbatschow einen Schritt weiter - aber freilich auch schon wieder bei den nächsten Schwierigkeiten. Wir haben es nicht vergessen, warum und von wem eigentlich der liberale Nikita Chruschtschow gestürzt wurde. Das Militär hat ihn gekippt, als er versuchte, im Schutz des endlich erreichten atomaren Patts die Sowjet–Armeen radikal zu verringern. Da gabs zuviele mächtige Leute, die keine Lust hatten, wieder arbeiten zu gehen. Ich hoffe auf Gorbatschow. Ich hoffe darauf, daß ich eines fröhlichen Tages wieder in Leipzig singen darf und - noch lieber - in Dresden an der Elbe spazieren gehn. Es stimmt, leider, was Brecht schrieb: Den überschwänglichen Hoffnungen folgt leicht die überschwängliche Hoffnungslosigkeit. Davor hüte ich mich, so gut ich kann. Aber lieber begeistert hoffen und wieder auf die Schnauze fallen, als tatenarm und gedankenvoll jammern. Ja, Hoffnung, ihr eleganten Arschlöcher! Hoffnung noch immer - und grundlos, wie die Liebe.

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