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Projektionen der eigenen Schmerzen und Leiden

Fehlende Literatur läßt auf mangelndes Interesse am Thema schließen. Nachzulesen, warum Eltern ihre Kinder töten, das ist kaum möglich in deutscher Sprache. Ein Tabu läßt sich vermuten: die Tötung der eigenen Kinder. Während Mißhandlungen von Kindern und Frauen aus dem Dunkel des Schweigens hervorgezogen sind, auch Päderastie wird - erbittert und kontrovers - diskutiert, beschränkt sich Literatur zum Kindesmord auf die Kindes tötung „unter der Geburt“, die Tötung von Neugeborenen. Ein Delikt, das eher nachsichtige Richter findet. Daß Kinder im Leben der Erwachsenen seit Jahrtausenden Nichtpersonen waren, läßt sich dennoch belegen. In der Antike, im Mittelalter, in der Neuzeit wurden sie vom Säuglingsalter an geschunden, geschlagen, gequält, mißbraucht, geopfert, verkauft. Ekel vor ihrer Hilflosigkeit, ihren unkoordinierten Bewegungen, ihrer geringen Verwertbarkeit machte sie zu Unpersonen ohne eigenen Willen, rückte sie in der Wahrnehmung der Erwachsenen in den Bereich der Tiere. Das Aussetzen und Verstümmeln kleiner Kinder war Alltag. Das traf uneheliche, normabweichende und weibliche Kinder allemal. Die Eltern trennten sich auch sonst schnellstmöglich von ihnen. Bei ihren Säugammen wurden sie oft schlecht versorgt und starben früh. Überlebten sie, kamen sie zum Dienst in fremde Familien. Wenn auch das Christentum zum Beispiel durch das Errichten von Findelheimen versuchte, Abhilfe zu schaffen, änderte sich die Praxis kaum. Noch im 18. Jahrhundert berichtete der Polizeichef von Paris, daß von den 21.000 Neugeborenen in einem Jahr 17.000 zu Säugammen aufs Land gegeben wurden, einige tausend in Heimen oder bei Ammen im Elternhaus aufwuchsen und nur 700 von ihren eigenen Eltern versorgt wurden. „Die kleinen Engelchen“, ständig todesumwittert, zu denen sich evolutionsgeschichtlich durchaus Zuneigung entwickelte, starben bis in dieses Jahrhundert oft unbetrauert und schnell vergessen. Eine gesellschaftlich geduldete Praxis der Geburtenkontrolle. Und eine verdrängte Geschichte. Der bigotte Aufschrei einer Gesellschaft, in der Menschen eigene oder andere Kinder töten, und in der die Boulevard–Presse die Absolution all denen erteilt, die nicht Hand angelegt haben an die Hälse der Kinder, entspricht dem Maß der Verdrängung. Lloyd de Mause schreibt dazu in „Hört ihr die Kinder weinen“: „Die Geschichte des Kindesmordes im Westen muß erst noch geschrieben werden.“ Über Projektionen der Eltern auf ihre Kinder heißt es: „Die Funktion des Kindes besteht darin, die den Erwachsenen bedrückenden Ängste zu reduzieren. Das Kind dient dem Erwachsenen als Mittel der Abwehr.“ Mause verweist auf Quellen, die das Verschmelzen der schlagenden Erwachsenen mit dem geschlagenen Kind deutlich machen und in denen daher „so etwas wie Schuld nicht vorkommt“. Kinder sind allemal Erwachsenen die Folie zur Projektion ihrer eigenen Schmerzen gewesen, der Leiden, die ihnen zugefügt wurden oder sie sich selber zufügten. Polizei und Staatsanwaltschaft schließen im Fall Weimar Dritte als Täter vorerst aus. Wer immer Melanie und Karola Weimar tötete hat die dünne Schicht, die menschliche Urängste bedeckt, zerrissen. Die Unschuld läßt sich durch ein Urteil nicht wieder herstellen, nicht für die Eltern, nicht für Verwandte und Nachbarn. Die Gesellschaft, die den Schutz des ungeborenen Lebens zum politischen Streit gemacht hat, bietet den Lebenden oft nicht mehr als den Terror der Kleinfamilie an. 1894 schrieb John Hervey, Graf von Bristol: „Es ist gut, nicht geboren zu werden; aber wenn es sein muß, ist es das nächste Gute, bald wieder zur Erde zurückzukehren.“ Vera Kamenko, „Unter uns war Krieg“, Rotbuch Verlag, Berlin 1982; „Hört ihr die Kinder weinen“, Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Hrsg. Lloyd de Mause, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977.

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