Hektische Suche nach Strahlenquelle

■ Bundesregierung fordert Erklärung der UdSSR über möglichen atomaren Unfall / Sowjetischer Regierungssprecher Gerassimow: Kein Atomunfall in der UdSSR / IAEO in Wien war nicht informiert / Erhöhte Strahlung auch in anderen Ländern festgestellt

Von Raul Gersson

Berlin (taz) - Hohe Wellen schlägt der gestern in der taz veröffentlichte Bericht über einen möglichen atomaren Unfall in der UdSSR Anfang März dieses Jahres. Die Bundesregierung, die bis gestern nichts unternommen hatte, um die Quelle der Verstrahlung durch eine Anfrage bei der UdSSR aufzuhellen, hat nun nach Angaben des Bundesumweltministeriums (BMU) von der UdSSR eine Erklärung für die Erhöhung der Radioaktivität gefordert. Bestätigt wurde, daß auch in der Schweiz Anfang März erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Der für die radioaktive Überwachung verantwortliche Experte Voelkle erklärte gegenüber afp, daß die gemessene erhöhte Strahlenbelastung mit Xenon– und Jod–Nukliden in ihrer Zusammensetzung den Messungen nach dem Tschernobylunfall entsprächen. Nach Ansicht Voelkles komme dafür nur die unterirdische sowjetische Atombombenexplosion von Ende Februar oder ein Unfall in einem sowjetischen AKW in Frage. Nach Ansicht des deutschen BfZ kann die Atombombenexplosion als Ursache jedoch nahezu ausgeschlossen werden. In einem Bericht des Instituts für Atmosphärische Radioaktivität beim Bundesamt für Zivilschutz (IAR) für das BMU war die begründete Vermutung geäußert worden, daß es Anfang März einen atomaren Unfall in einem AKW in Zentralrußland gegeben habe. Zu diesem Ergebnis war das IAR gekommen, nachdem es von dem BMU beauftragt worden war, einem zwischen dem 10. und 14.März beobachteten Anstieg der Luftradioaktivität nachzuge hen. Das Meteorologische Institut der Freien Universität Berlin bestätigte, daß die in den fraglichen Märztagen eine vorwiegend östliche Windströmung geherrscht habe, die nach dem 14. März in eine westliche Richtung gedreht sei. Genau zu diesem Zeitpunkt sind die Werte an den über das ganze Bundesgebiet verteilten Meßpunkten der BfZ wieder gefallen. Fortsetzung auf Seite 2 Kommentar auf Seite 4 Den sowjetischen Minister für Kernenergie, Nikolaj Lukonin, erreichte die Nachricht über den in der taz veröffentlichten Bericht des BfZ in Tokio, wo er an einer internationalen Konferenz der Internationalen Atomenergie Organisation (IAEO) teilnimmt. Er sei über einen atomaren Unfall „nicht informiert“, gab er bekannt. Hätte sich ein solcher Unfall ereignet, meinte Lukonin weiter, wären der finnische Nachbar oder die Vereinigten Staaten informiert worden. Die Sowjetunion hatte nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl im Wiederholungsfalle eine solche Unterrichtung zugesagt. In Moskau äußerte sich auch der Sprecher der sowjetischen Regierung, Gerassimow. Alle sowjetischen Kontrollsysteme hätten permanent funktioniert. Zu keinem Zeitpunkt sei im Bereich der UdSSR erhöhte Strahlung registriert worden. Sei sie andernorts festgestellt worden, so gehe sie nicht von der UdSSR aus. Eine Anfrage in Wien bei der IAEO brachte ebenfalls keine Aufklärung. Wie der Mitarbeiter der dortigen Informationsabteilung, Wedekind, erklärte, dort sei keine Meldung aus der UdSSR eingetroffen. Die Verpflichtung zur Information sei nur eine freiwillige Absichtserklärung und sei auch nicht für den Fall gegeben worden, daß Radioaktivität aus einer militärischen Anlage austrete. Von sich aus werde die IAEO nicht tätig werden, „weil wir in Diensten der Länder arbeiten“. Auch von der Bundesregierung sei bei der IAEO nicht wegen der erhöhten Radioaktivität nach einer möglichen Quelle nachgefragt worden. Hans Blix, der Direktor der IAEO, hat in Tokio die Nachrichten aus der BRD zum Anlaß genommen, sich zu Sicherheitsfragen der Atomenergie zu äußern. Er forderte mehr und genaue Informationen der einzelnen Länder über die Atomenergie. Nur so könne in der Öffentlichkeit der Glaube an die Nuklearenergie wiederhergestellt werden. In Bonn wurden gestern weitergehende Überlegungen zuständiger Stellen bekannt. Es wurde darauf verwiesen, daß die USA in diesem Zeitraum über dem Pazifik eine Wolke mit vergleichbaren Strahlenwerten registriert hätten. Eine Identität dieser Strahlung mit der in der BRD festgestellten „kann nicht ausgeschlossen werden“, hieß es. Gestützt offenbar auf Geheimdienst–Informationen wurde zugleich betont, daß ein AKW–Unfall in der UdSSR nach allen vorliegenden Erkenntnissen nicht habe ausgemacht werden können. SPD–Fraktionsvize Hauff rügte unterdessen die Informationspolitik der Bundesregierung. Die SPD fordere die Regierung auf, endlich „gläserne Verhältnisse“ bei allen Unfällen in Nuklearanlagen zu schaffen. Der ostbayerische SPD–Vorsitzende Schmid warf dem noch amtierenden Umweltminister Wallmann (CDU) vor, die erhöhte Strahlung „im Hinblick auf die Hessenwahl“ verschwiegen zu haben. Schwedische Experten äußerten gestern die Auffassung, daß die erhöhte Radioaktivität wahrscheinlich nicht auf einen Atomwaffentest zurückzuführen sei. Ein Störfall habe aber vermutlich ebenfalls nicht vorgelegen, wenngleich er als Ursache nicht auszuschließen sei, erklärte Tommy Godaas von der schwedischen Strahlenschutzbehörde. Ein Sprecher der britischen Strahlenschutzkommission, Matthew Gaines, sagte am Dienstag in Oxon, er wisse nicht, ob die erhöhten Werte auf einen Störfall oder einen Atomtest zurückgingen, fest stehe jedoch, daß eine äußerst niedrige Konzentration vorgelegen habe. Sie sei mit der nach Tschernobyl in keiner Weise zu vergleichen gewesen. Auch in ganz Frankreich sind in der Zeit vom 9. bis zum 15. März nach Angaben der staatlichen Strahlenschutzbehörde SCPRI „geringfügig erhöhte“ atmosphärische Radioaktivitätswerte und Spuren von künstlich erzeugter Radioaktivität registriert worden. Die Angaben bestätigen ähnliche Messungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz.