: Die „Neue Soziale Frage“ hat alte blinde Flecken
■ Ohne präzise Problembeschreibung keine wirksame Sozialpolitik / Verantwortung für den Umgang mit der Armut schiebt die Bundesregierung gerne ab
Von Stephan Leibfried
Die Parteien diskutieren über Verarmung und Arbeitslosigkeit, jedenfalls hier und da - und in der Opposition eher als in der Regierung. Hier gilt viel Energie der Schuldfrage: Wer hat sie „gemacht“, wer wem das Thema „angehängt“? Derweil kommt in „Armenspeisungen“ die Rumfordsche Suppe, eine frühe bayerische Innovation der Wohlfahrtspflege, und kam im vergangenen Winter gar eine EG–“Winterhilfe“, vor allem mit Butter, wieder zu Ehren. Gleichzeitig geraten die grundsätzlichen Probleme eher aus dem Blick. Zwei dieser Problemfelder seien benannt: Das Normalitätsmodell der Prosperität der 60er und ersten Hälfte der 70er Jahre greift nicht mehr wie gewohnt. Vom „Normalarbeitsverhältnis“ bis zur „normalen sozialen (Ver)Sicherung“, von der „Normal(sub)urbanität“ über die „Normalfamilie“ und „Normalehe“ bis zur „Normalidentität“ scheinen die Risse im einstmals so festen Gesellschaftsgefüge der Wirtschaftswunderzeit zu reichen. Eine neue Synthese dürfte erforderlich werden, die für Jahrzehnte das politische Denken aller Parteien im Grundsätzlichen herausfordert und vor der die normale Bonner Kleinarbeit versagen muß. Nicht nur in der Diskussion über die Rentenreform, Grundrente bzw. „Grundsicherung“ - zwischen den Grünen, Kurt Biedenkopf, Meinhard Miegel, Stephanie Wahl, Norbert Blüm und Anke Fuchs - kündigt sich dies an. Die Blindheit vieler Diskussionen hat auch eine tragende empirische Stütze. Die deutsche Sozialberichterstattung, die offizielle Statistik also, zentriert vor allem auf Sozialleistungen, nicht auf soziale Probleme. Die sich verändernden, die wachsenden sozialen Probleme bleiben konturlos, während ein Sozialbudget von Amts wegen routinemäßige Kontur erhält. Unsichtbar bleibt auch, inwieweit und wie ganze Generationen in diesen Entwicklungen priviligiert bleiben bzw. ins Abseits gedrängt werden und wie Männer und Frauen unterschiedlich von der sozialen Entwicklung betroffen sind (“gender politics“). Die Sozialberichterstattung zentriert ferner auf den Sozial(versicherungs)staat als Zentralstaat, nicht auf lokale Sozialpolitik, obgleich sich im urbanen sozialen Raum gerade die ungelösten, die verdrängten Probleme sammeln und die dezentralen Instanzen dort als „Sozialstaat in der Reserve“ in Pflicht genommen sind. Im Bereich der Sozialhilfe schließlich zentriert sie nicht auf eine unabhängige Meßgröße von Armut (international üblich sind z.B. 50 durchschnittlichen Nettoeinkommens), sondern auf eine offiziöse Grösse, den Regelsatz, der in erheblichem Maße politischen Konjunkturen ausgesetzt ist. Die Diskontinuität, wenn nicht die Willkürlichkeit dieses Maßstabs, hat nicht zuletzt das „Krisenverfahren“ bei der „Deckelung“ der Regelsätze 1982–1985 gezeigt. Ein Extremfall der Argumentation mag belegen, welcher Art die logischen Zusammenhänge sind, die das Problem ausmachen: Je stärker die Regelsätze sinken, um so mehr wird eine - ja „objektiv“ jenseits des Maßstabs real existierende - Armut als verschwindend dargestellt; ein hinreichend klei ner Regelsatz löste Armut als statistische Größe auf. Daß eine solche „Fixierung“ des Maßstabs unnötig und ihre Auflösung sozialpolitisch von zentraler Bedeutung ist, zeigen nicht zuletzt die USA, in der die Armutsgrenze (“poverty line“), auf der die dortigen regelmäßigen Armutsberichte fußen, und die Standards der Sozialhilfeleistungen ganz getrennte Größen sind - und über diese offiziösen Armutsberichte liest man bald regelmäßig im Spätsommer Notizen, oft in der gesamten bundesdeutschen Presse. Mit einer so lückenhaften Berichterstattung gerät die bundesdeutsche Sozialpolitik, die Sozialhilfepolitik zumal, „natürlicherweise“ in die Defensive - denn diese Probleme stehen alles andere als automatisch im Zentrum der öffentlichen Aufmerksam keit. Praktisch war zwar mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom 1. Juni 1962 ein Fortschritt erreicht (Recht auf Sozialhilfe, Standardisierung und Vereinheitlichung des Existenzminimums) und wurde auch weiter entwickelt (Hilfe in besonderen Lebenslagen). Aber wie die heutigen Empfängerzahlen in Millionenhöhe für die Sozialhilfe zeigen, war es leider nur der Optimismus der Wirtschaftswunderzeit, damit zu rechnen, diese Unterstützungszahlungen des Staates würden langsam absterben. Über die Gründe für diese Entwicklung lassen sich aus der offiziellen Statistik kaum triftige empirische Erkenntnisse gewinnen. Erste Ansätze zu einer verbesserten Berichterstattung finden sich in einigen Kommunen, so in Kiel, Essen und Bremen, und in der Forschung. Konkrete Vorschläge dafür sind jüngst vor allem von der Arbeitsgruppe Armut und Unterversorgung umrissen worden. Sie will der systematischen Ausblendung der sozialen Zusammenhänge beikommen durch - einen „nationalen Armutsbericht“, erstellt von einer „unabhängigen Sachverständigenkommission“, - mindestens eine ausgebaute Einkommens– und Sozialhilfestatistik, möglichst aber eine, die alle zentralen Armutsdimensionen umfaßt (Ausbildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit usw.), - gezielte und regelmäßig stattfindende Sonderuntersuchungen und vermehrt geförderte Forschung. In jedem Fall müsse „Armut als zentrales Element gesamtgesellschaftlicher Ressourcenverteilung begriffen und in ihrer Relativität zu gesellschaftlichem Reichtum verdeutlicht werden“. Eine vertiefte Berichterstattung über Armut und ihre Bekämpfung scheint von seiten der Bundesregierung allerdings nicht angestrebt. Das Protokoll einer Bundestagsdebatte zum Thema dokumentiert das Ausweichen der Regierung und den Versuch, Verantwortung von sich weg zu lenken. Man meint, daß „der Begriff Armut nicht allgemeingültig definiert werden kann“ und „vorwiegend Zuständigkeitsbereiche der Länder angesprochen“ seien (Bundestagsdrucksache 10/6055, S.12). Wie armselig die Sozialberichterstattung - schließlich die Grundlage für vorausschauende und effektive Sozialpolitik - tatsächlich ist, zeigte sich, als die Bundesregierung bei der Beantwortung von zentralen Fragen passen mußte: Keine Auskunft gab es - jeweils unter Hinweis auf die unzureichende Datenlage - zu den Hauptursachen der Hilfsbedürftigkeit, zum Ausschluß der Armen von sozialen Dienstleistungen und zum Problem der besonderen Gesundheitsgefährdung einkommensarmer Personengruppen am Arbeitsplatz. Sind das alles irrelevante Fragen, die im bundesdeutschen Gemeinwesen keine Aufmerksamkeit verdienten? Würden sie nicht eine offizielle Enquete über „Armut und Unterversorgung“ rechtfertigen? Ohne Tiefengenauigkeit, Regelmäßigkeit und Nationalisierung solcher Berichterstattung werden die alten blinden Flecken einer neuen Transparenz kaum weichen und „Armut“ wird Gegenstand unkontrollierbarer politischer Spekulationen bleiben. Das dürfte schon die heutige Sozialpolitik behindern und jedenfalls ein neues politisches Konzept verdrängen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen