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Gedenken an Tschernobyl - UdSSR will mehr Atomstrom

■ Ein Jahr nach Tschernobyl: Hundertausende demonstrierten gegen die Atomindustrie / UdSSR will Atomstromkapazität verdoppeln / Neuer Atomunfall in Frankreich / Strommasten in der BRD besetzt

Berlin (dpa/afp/ap/taz) - Weltweit gedachten gestern Hunderttausende auf Demonstrationen, Mahnwachen, Gebetsstunden und Veranstaltungen des ersten Jahrestags des Super–GAUs in Tschernobyl. Einunddreißig Menschen sind nach offiziellen Angaben bisher an den Folgen der Katastrophe gestorben. 135.000 wurden evakuiert, 16 der damals geräumten Dörfer sind inzwischen wieder besiedelt. Die Spätfolgen durch die schwere Strahlenbelastung in weiten Teilen Euopas sind noch nicht absehbar. Auch in der Sowjetunion will man Lehren aus Tschernobyl ziehen, versprach Politbüro–Mitglied Lew Saikow. Wie diese Lehren aussehen, verdeutlichte der Vorsitzende des sowjetischen Atomenergieausschusses, Andranik Petrosjanz. Er kündigte an, daß 1990 doppelt soviel Atomstrom erzeugt werde wie 1985. Elf AKWs seien gegenwärtig im Bau. Seit Tschernobyl sei die Sicherheit „beträchtlich gesteigert“ worden. Die Sowjetunion will den Bau von graphit–moderierten Atommeilern vom Tschernobyl–Typ RBMK einstellen und sich statt dessen auf Druckwasser–Reaktoren wie im Westen konzentrieren. Nur noch drei RBMK–Reaktoren - in Smolensk, Kursk und Injalina - sollen fertiggestellt werden, nicht aber die Blöcke fünf und sechs in Tschernobyl selbst. Nur drei der zentralen sowjetischen Zeitungen würdigten am Sonntag den Jahrestag ausführlich. Das Fernsehen zeigte am Samstag einen bisher unbekannten Film über den Reaktorbrand. In Frankreich reißt die Serie der AKW–Pannen nicht ab: In Saint– Alban–Saint–Maurice südlich von Lyon sind zwei Angestellte leicht radioaktiv verstrahlt worden, während der Reaktor zur Aufladung der Brennelemente abgeschaltet war. Es ist der vierte Unfall kurz nach den Lecks im Superphenix Malville, in der Brennelementefabrik Pierrelatte und im elsässischen AKW Fessenheim. Fortsetzung auf Seite 2 Berichte aus Wackersdorf und Hamm–Uentrop ebenfalls auf Seite 2 In den USA wurden 1986 mehr als 3.000 Störfälle der Atomkontrollbehörde (NRC) gemeldet. Dies listet eine Studie der privaten Forschungsgruppe „Public Citizen“ auf. Unter den Störfällen war auch der von Gravel Neck in Virginia, bei dem am 9. Dezember 1986 vier Menschen starben und fünf verletzt wurden. Ein NRC–Sprecher sagte zu der Studie, die AKWs seien gehalten, die kleinste Unregelmäßigkeit von der kaputten Glühbirne bis zum zu spät gekommenen Aufseher seiner Behörde zu melden. So sei die hohe Zahl der gemeldeten Fälle geradezu ein Beweis dafür, wie gut die Sicherheit in den US–AKWs überwacht werde. Während also die internatio nale Atomgemeinde am Wochenende „business as usual“ verzeichnete, gingen AKW–Gegner überall auf der Welt auf die Straße, um den Ausstieg aus der Atomenergie zu fordern. Auch in Osteuropa wurde demonstriert: Vier Mitglieder einer verbotenen sowjetischen „Gruppe zur Schaffung von Vertrauen zwischen der UdSSR und den USA“ haben am Sonntag unweit des Kreml demonstriert. Die Kundgebung wurde von zahlreichen Polizisten und KGB–Agenten beobachtet. In Prag entrollten Greenpeace– Mitglieder aus der BRD, Österreich und Schweden am Nationalmuseum ein Transparent mit der Aufschrift „Kein zweites Tschernobyl - für eine Zukunft ohne Atom“. Die Polizei nahm die fünf Menschen fest und entfernte das Transparent nach einigen Minuten. 5.000 demonstrierten gegen den Atommeiler Cattenom im Dreiländereck BRD, Frankreich, Luxemburg, dessen erster Block am Netz ist und der bis 1990 5.200 Megawatt produzieren soll. In London marschierten mehr als 100.000 Protestierende durch die Innenstadt, rund 50.000 bildeten in Norditalien eine Menschenkette zwischen dem AKW von Caorso südwestlich von Mailand und dem Militärflughafen San Damiano. In den Niederlanden wurde am Samstag in einer von der Gruppe „Niemals wieder Tschernobyl“ organisierten Aktion das größte niederländische Atomkraftwerk bei Borssele blockiert. Am Sonntag versuchten Demonstranten, ein Aluminiumwerk bei Borssele zu blockieren. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Zu einem schweren Polizeieinsatz kam es am Samstag auch in Bern gegen Teilnehmer eines nicht genehmigten Demonstrationszuges. Mit Tränengas und Gummigeschossen ging die Polizei gegen die Demonstranten vor, die sich nach Abschluß einer genehmigten Kundgebung von 15.000 Personen zu dem Marsch durch die Berner Innenstadt aufgemacht hatten. Die größten Demonstrationen in der BRD fanden am Samstag in Hamburg und West–Berlin statt. In Nürnberg wurde eine „Tschernobyl–Woche“ eröffnet. Fünf AKW–Gegner aus dem Landkreis Heilbronn besetzten am Sonntag einen Strommast vor dem AKW Neckarwestheim. Nach wie vor hielten in Reutlingen Mitglieder der Umweltschutzorganisation „Robin Wood“ auf dem Gelände des geplanten Atomkraftwerks Mittelstadt einen Strommast besetzt. Die Umweltschützer harren seit der Nacht zum Freitag aus. ci

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