Volkszählungsgegner versus Machtstaat

■ Seit Bestehen der Republik dokumentieren Volkszählungen den staatlichen Machtanspruch

Die historische Kontinuität ist augenfällig: Der Wortbruch der Regierung im Zuge der Volkszählung 1950 veranlaßte die heutige Zeit–Herausgeberin Gräfin Dönhoff bereits damals zu einer Analyse, die den einstigen Rechtsstaat als Machtstaat denunziert. Daß sich daran nichts geändert hat, beweisen die Aktionen, die nun bereits im Vorfeld der Volkszählung potentielle Boykotteure einschüchtern sollen. Doch im Gegensatz zu 1950 ist der Unwillen nicht mehr individualisiert. Am Wochenende trafen sich in Kln die Vertreter der Boykottbewegung aus dem gesamten Bundesgebiet, um über die „heiße Phase der Verweigerung“ zu reden. Dabei konnte weitgehende Einigkeit über die Form des zu empfehlenden Boykotts hergestellt werden. Gleichzeitig demonstrierten am Sonntag abend in der Freiburger Stadthalle 5.000 Besucher bei der bislang größten Anti–Volkszählungsveranstaltung.

„Es gibt keine weißen Flecken mehr auf der Landkarte der Boykottbewegung“, konnten die Vobo–Gruppen am Sonntag in Köln zufrieden feststellen. Über 250 Vertreter/innen von Initiativen aus allen Bundesländern waren zu einem Koordinierungstreffen angereist. Am Ende stand als wichtigstes Ergebnis die nahezu einstimmige Einigung über die zu empfehlende Form des Boykotts. Die sogenannte Kölner Linie soll sein: Der erste Bogen soll anonymisiert, also nach Abtrennung der Kontrollnummer schnellstmöglich vom Zähler zur Sammelstelle gelangen. Dem Zähler sollen dabei nur die unbedingt notwendigen Auskünfte, um den Bogen zu erhalten, beantwortet werden. Ihm gegenüber soll man sich nicht als Boykotteur/in zu erkennen geben. Zweites Ergebnis des ganztägigen Treffens: Vom 9. bis 16. Mai wird im gesamten Bundesgebiet eine Aktionswoche durchgeführt werden. Schwerpunktmäßig sollen dabei am 16. Mai dezentral Großveranstaltungen unter anderem mit Kulturprogramm und Informationen über den Boykott stattfinden. Auf die „Kölner Linie“ des Boykotts konnten sich die Teilnehmer/innen des Koordinationstreffens recht schnell verständigen. Sie soll den Vorteil des „Bekennerboykotts“ (daß die Bewegung schnell über vorzeigbare Boykotteurszahlen verfügt) mit den Vorzügen des „Verzöge rungsboykotts“ (daß die einzelnen erst spät der möglichen staatlichen Repression ausgesetzt sind) verbinden. Ein weiteres Argument für die „Kölner Linie“ war, daß auch diejenigen, die nicht das Risiko von Zwangsgeldern und Bußgeldzahlungen eingehen wollen, recht gefahrlos offen boykottieren können. Wenn die Ämter für Volkszählung sie auffordern, ihren Fragebogen abzugeben, können sie darauf verweisen, daß dieser in die Waschmaschine gekommen sei und sie daher einen zweiten benötigten. „Am liebsten sind uns natürlich Leute, die auch ihren zweiten und eventuell dritten Fragebogen an die Sammelstellen abgeben, aber um einen Dominoeffekt bei den Unentschlossenen zu erzeugen, ist es wichtig, erstmal eine hohe Zahl von Leuten zu haben, die ihren ersten Fragebogen sofort in der heißen Phase abgeben“, erklärte eine Initiativenfrau das Kalkül dieser Strategie. Von Mitgliedern wurde daraufhingewiesen, daß die Repression der Bundesländer, je nach Zählverordnung, unterschiedlich spät einsetzen wird: Während in Baden– Württemberg schon mit dem zweiten Zählbogen voraussichtlich eine Zwangsgeldandrohung verschickt werden wird, ist in Nordrhein–Westfalen zu erwarten, daß ohne große Umstände dreimal Fragebögen ausgegeben werden, wenn die ersten beiden für „verloren gegangen“ erklärt werden. Als Problem vor allem für die Vobo–Gruppen im ländlichen Raum und in kleineren Städten erweist sich derzeit noch die Einrichtung von Sammelstellen. Da dort kaum eine alternative Infrastruktur besteht, müssen Privatadressen als Sammelstellen herhalten. Um das Risiko, juristisch belangt zu werden, möglichst klein zu halten, sollen - darauf wurde bei den Diskussionen mehrfach verwiesen - die Sammelstellen nicht selbst zum Boykott aufrufen: Das Annehmen der Fragebögen allein stelle auf gar keinen Fall eine Ordnungswidrigkeit dar. Die staatliche Repressionswelle, die sich in immer mehr Städten gegen Vobo–Infostände, aber auch gegen Druckereien und Flugblattherausgeber richtet, wurde von den in Köln Versammelten als schwerer Eingriff in die „Informations–, Diskussions– und Meinungsfreiheit“ bewertet: „Gegen die panikartigen Beschlagnahmeaktionen setzen wir die Ruhe der Gewißheit, daß die anvisierte Volkszählung ohne einen breiten gesellschaftlichen Konsens nicht durchsetzbar sein wird. Die Reaktionen der Volkszählungsbefürworter belegen nichts anderes, als daß der Staat die Hoffnung auf die Herstellung dieses notwendigen Konsenses längst aufgegeben hat und (...) hoffnungslos aus der Defensive agiert“, heißt es in einer verabschiedeten Resolution. Oliver Tolmein