Berlin feiert - Kreuzberg brennt Schwerste Randale seit Jahren

■ Heftige Straßenkämpfe tobten in der Nacht zum 2. Mai / Polizei zog sich aus Kreuzberg zurück / 36 Läden geplündert, Supermarkt abgefackelt / Kritik von autonomen Gruppen an Trunkenheit und angestautem Haß

Von Brigitte Fehrle

Berlin (taz) - Einen Tag nach Eröffnung der 750–Jahr–Feier steht Berlin kopf. In der Nacht vom ersten zum zweiten Mai erlebte der Bezirk Kreuzberg die schwersten Straßenschlachten der letzten Jahre. Bis zum frühen Morgen brannten meterhohe Straßenbarrikaden, PKWs und Feuerwehrautos. Alle Zufahrten nach Kreuzberg waren blockiert. Baugerüste wurden angezündet und schließlich Bolle, ein Riesen–Supermarkt, in Brand gesteckt. Die Bilanz der Nacht: 47 Festnahmen, weit über hundert Verletzte, 36 geplünderte Läden, Strommasten und sämtliche Telefonhäuschen der Umgegend zertrümmert und ausgeräumt, alle Ampeln außer Betrieb, Schäden in Millionenhöhe. Die Berliner Polizei war offensichtlich nicht mehr Herr der Lage. Um elf Uhr nachts zogen sich die vierhundert Beamten zurück und überließen Kreuzberg sich selbst. Erst am frühen Morgen, gegen drei Uhr, rückten sie mit Panzerspähwagen, Wasserwerfern und Barrikadenräumfahrzeugen an und brachten Scheinwerferlicht ins Dunkel des Stadtteils. Aber da war Bolle schon ausgebrannt und auch die U– Bahn–Station Görlitzer Bahnhof qualmte seit Stunden. Verkohlte Autowracks, ein rauchender Bagger und ein demoliertes Feuerwehrauto säumten die Straßenränder. Den Aktionen vorangegangen war eine nächtliche Durchsuchung des Volkszählungsbüros im Kreuzberger Kultur– und Kommunikationszentrum Mehringhof. Einige tausend Broschüren waren beschlagnahmt worden. Die Polizei hatte um fünf Uhr früh ohne richterlichen Durchsuchungsbefehl die Tore des Zentrums aufgeknackt und die Eisentür des VoBo– Büros mit Brecheisen aufgebrochen. Die Durchsuchung war heftiges Diskussionsthema auf dem traditionellen Kreuzberger Erste–Mai–Fest auf dem Lausitzer Platz, wo dann die ersten Steine flogen. Eine neue Klasse Mitbürger hat Berlins Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) in einer ersten Stellungnahme für die Ausschreitungen verantwortlich gemacht. Fortsetzung auf Seite 2 Tagesthema Seite 3 Kommentar auf Seite 4 „Anti–Berliner“ nannte er die Akteure der Nacht, die sich in „brutaler Gewalt zusammengerottet haben um zu stören und zu zerstören“. Kewenig mußte einräumen, daß die Polizei die Lage nicht im Griff gehabt habe. Man sei auf ein solches Maß an Gewalt nicht vorbereitet gewesen. Die Alternative Liste erklärte, sie sehe die provokative Durchsuchung des VoBo– Büros im Mehringhof und den Tränengaseinsatz gegen das Stadtteilfest als Auslöser für die Ausschreitungen. Dies erkläre jedoch nicht das „beispiellose Ausmaß an Zerstörung“. Es habe sich hinter den blankgeputzten Fassaden der 750–Jahr–Feier ein hohes Maß an Unzufriedenheit und sozialer Spannung angesammelt. „Nicht den Anschein einer politischen Rechtfertigung“ sieht der Partei– und Fraktionsvorsitzender der Berliner SPD, Walter Momper, in den Vorfällen der Mai– Nacht. Eine Vollversammlung der Autonomen am Samstag abend versuchte aus den Ereignissen der Nacht Bilanz zu ziehen. Einhellig verurteilt wurde die Zerstörung kleiner Geschäfte im Kreuzberger Kiez. Teilweise seien auch Steine gegen die eigenen Leute geflogen, man habe die Situation später nicht mehr im Griff gehabt. „Der lang angestaute Haß und der Alkohol haben dazu geführt, daß ab Mitternacht einige blind um sich geschlagen haben. Wir finden das beschissen“, heißt es auf einem Flugblatt, das gestern in Kreuzberg geklebt wurde.