„Hier hat keiner etwas gegen Juden“

■ Jüdischer Arzt will nach jahrelangen Diffamierungen die hessische Kleinstadt Gedern verlassen / Bürger–Protest gegen die Vorwürfe des Arztes / Unterschriftenaktion gegen den „Rufmord“

Von Reinhard Mohr

Frankfurt (taz) - Der Skandal um die Verfolgung des jüdischen Arztes Dan Kiesel in der osthessischen Stadt Gedern zieht weite Kreise. Nach jahrelangem antisemitischen Terror - u.a. judenfeindliche Schmierereien an der Hauswand und telefonische Morddrohung - hatte Kiesel während einer Protestkundgebung vor einer Woche erklärt, er müsse nun schweren Herzens den Ort verlassen, an dem er nicht mehr leben könne. Zuvor war ein ihm gehörendes Haus einer Brandstiftung zum Opfer gefallen (siehe taz vom 27.4.87). Der Arzt Dan Kiesel unterhielt seit 1982 eine gut besuchte Praxis in Gedern. Ende vergangener Woche debattierte der Hessische Landtag über einen Dringlichkeitsantrag der Grünen, der zu „spontaner Solidarität“ mit dem Verfolgten aufrief. Jenseits des allgemeinen parlamentarischen Konsenses - „Jeder Faschist, jeder Rassist, jeder Antisemit ist ein Feind dieser Landesregierung“ (Innenminister Gottfried Milde) - offenbarte sich während der Debatte der trostlose Abgrund von Wirklichkeitsverlust und Diskussionsfähigkeit: Ministerpräsident Wallmann war meist abwesend und arbeitete Akten auf, während sich etwa ein Viertel aller Abgeordneten in der Lobby herumtrieben. Bevor der Dringlichkeitsantrag routiniert in den Innenausschuß verwiesen wurde, gab es nur einmal Aufregung - allerdings nur von rot–grüner Seite -: als der FDP–Abgeordnete Jörg–Uwe Hahn die Frage aufwarf, worin, außer dem an Kiesels Haus angeklebten „kläglichen (?) Davidstern“, denn die „Bedrohungen und Belästigungen“ gegen den Arzt bestanden hätten. Es sei „grob fahrlässig“, nicht bewiesene Behauptungen als Tatsachen hinzustellen. Das meinen auch jene Gederner Bürger, die ein Fernschreiben an Ministerpräsident Wallmann und die Medien“ geschickt haben. Überschrift: „Gederner Bürger protestieren - Hilft uns denn niemand?“. Die taz erhielt Kenntnis von der Bürger–Epistel über einen ausführlichen Bericht im Kreis– Anzeiger für Wetterau und Vogelsberg vom 28. April 1987. Eine Nachfrage bei dpa, Frankfurter Rundschau und Hessischem Rundfunk ergab, daß diese ebenso wie die taz nicht zu den „Medien“ gehören, die die Bürger meinen. Auf telefonische Anfrage erklärte der Redakteur des Kreis– Anzeigers gegenüber der taz, nur jene Medien seien von dem Schreiben an Wallmann unterrichtet worden, die sich nicht an der „Pressehetze gegen Gedern“ be teiligt hätten. „Die haben uns bislang nicht geholfen, die werden uns auch jetzt nicht helfen und können uns gestohlen bleiben“ - das sei der Tenor jener Gederner Bürger, die sich von großen Teilen der hessischen Öffentlichkeit verraten fühlen und ihren „Hilferuf“ nun an Zeitungen wie die Süddeutsche und das Hamburger Abendblatt absandten. Gegenwärtig werde gar ein Anrufen des Deutschen Presserates in Bonn wegen der verunglimpfenden Berichterstattung“ erwogen. Unterschrieben wurde das Fernschreiben von nahezu hundert Bürgern, die darin fragen: „Was haben wir Dan Kiesel getan, daß er eine ganze Region mit Rufmord unmöglich machen kann?“ Außerdem gäbe es für die Verfolgungen und Attentatsversuche auf Kiesel außer „reißerischen Reportagen“ keinerlei Beweise. Alles andere seien „negative Übertreibungen“. Weiter heißt es in dem Fernschreiben: „Die Gederner Bevölkerung, die sich nach wie vor sehr distanziert verhält, hätte sich vielleicht zu einer Solidaritätskundgebung bereit erklärt, wenn man wüßte wer dieser Mann Dan Kiesel wirklich ist und woher er kommt. Durch die Wahl seiner jetzigen Begleiter (gemeint sind die Grünen, bei denen Kiesel Mitglied ist, d.Red.) hat Dan Kiesel sich bei der Bevölkerung unglaubwürdig gemacht.“ Auf einer Bürgerversammlung, über die derselbe Artikel im Kreis–Anzeiger berichtet, wurde Kiesel vorgeworfen, „nichts gegen die Eskalation getan zu haben“. Kiesel habe gewußt, wer den Judenstern an sein Fenster geklebt habe. Wäre dieser beseitigt worden, wäre auch kein Stein gegen die Scheibe geflogen, meinte ein Bürger. Überdies geschehe das Steinewerfen in Scheiben vielerorts. Und auch anderswo gebe es Schmierereien, an denen kaum Anstoß genommen werde. Wenn auf einem Auto einmal ein Schimpfwort stehe, dann wasche man das Auto und die Sache sei wieder ausgestanden. Andere Bürger betonten, daß Kiesel statt „das Gespräch mit den Bürgern zu suchen, massiv gegen die Bevölkerung tätig geworden“ sei. Der Zeitungsbericht über die Bürgerversammlung endet übrigens mit dem Wort eines vom katholischen Pfarrer Erwin Erhardt „autorisierten“ Mannes namens Hermann Fritz: „Wenn der Jude Hans Rosenthal in Gedern gewohnt hätte, wäre er bestimmt der angesehenste Bürger der Stadt gewesen. Hier hat niemand etwas gegen Juden.“ Wie die taz aufgrund einer Anfrage in der hessischen Staatskanzlei in Wiesbaden erfuhr, hat Ministerpräsident Wallmann noch nicht auf das Protestschreiben der Gederner Bürger reagiert.