: Vom „Substanzwert des Fragebogens“
■ Landgericht Lübeck erklärt Beschlagnahme von Boykottaufrufen der Volkszählungsgegner für rechtswidrig / Abschneiden der Kennziffern am leeren Fragebogen keine Straftat / AL–Post weiter beschlagnahmt
Von Petra Bornhöft
Berlin (taz) - Aufgrund eines Beschlusses der 4. Großen Strafkammer des Landgerichtes Lübeck mußte gestern die Polizei sämt liche beschlagnahmten leeren Volkszählungsbögen und Boykott–Aufrufe an die „Sammelstelle“ im Fraktionsbüro der Grünen zurückgeben. Das Gericht hatte einer Beschwerde gegen die vom Amtsgericht Lübeck angeordnete Beschlagnahme stattgegeben. Kernpunkt dieser bisher einmaligen Entscheidung: Der in Flugblättern und Broschüren enthaltene Aufruf, die Zählbögen durch Abschneiden der Kenn– Nummer zu „anonymisieren“, stelle keinen Aufruf zu einer strafbaren Sachbeschädigung dar, sondern nur eine öffentliche Aufforderung zu einer Ordnungswidrig keit. Daher sei eine Beschlagnahme nicht gerechtfertigt. Diese Entscheidung, gegen die eine rechtliche Beschwerde nicht zulässig ist, dürfte der Justiz schwer zu schaffen machen. Denn nahezu alle Durchsuchungen, Beschlagnahmeaktionen und Bußgelder gründen sich auf die Behauptung, der Aufruf von VoBo–Inis, vor Abgabe der leeren Bögen oben rechts die Schere anzusetzen, stelle eine Aufforderung zur Sachbeschädigung dar. In der Begründung des Beschlusses beschäftigt sich das Gericht mit dem Wert der Fragebögen. Die Richter wörtlich: „Der einzelne Fragebogen hat einen nur ganz geringen materiellen Sachwert, der Pfennigbeträge nicht übersteigt. An der Erhaltung des Substanzwertes des leeren Fragebogens besteht auch seitens des Statistischen Landesamtes kein Interesse.“ Darüber hinaus „wohnt dem leeren Fragebögen auch kein strafrechtlich geschützter Gebrauchswert inne“, bemerken die Juristen aus der Hansestadt. Das Abschneiden der Kenn– Nummer beeinträchtige nämlich „nicht die Brauchbarkeit des Fragebogens zu seinem bestimmten Zweck (...), vom einzelnen Bürger gewisse Informationen in maschinenlesbarer Weise zu erhalten“. Ohne weiteres könne das Statistische Landesamt nach Ablauf der Rückgabefrist für die Fragebögen feststellen, wer seinen Bogen abgegeben hat und wer nicht. Nur dazu diene die Kennnummer. (Az: 4 Qs 143/47). AL–Post weiter beschlagnahmt Wie schon am Montag behielt die Staatsanwaltschaft auch gestern die Post der Alternativen Liste (AL) Berlin. Nur Zeitungen und Kontoauszüge kamen an. Eine schriftliche Begründung für die mittlerweile auf AL–Nebenbüros und Buchläden ausgedehnte Beschlagnahme der Post lag bis zum späten Nachmittag nicht vor. K O M M E N T A R E
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