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Aufholjagd des Herausforderers Neil Kinnock

■ Der britische Oppositionsführer auf Wahlkampfreise in Englands Nordosten / Die Labour–Party verkürzt den Abstand zu den Tories der Maggie Thatcher / Arbeitslosigkeit und Benachteiligung sind Hauptthemen von Kinnocks Wählerwerbung

Aus Darlington Rolf Paasch

Der Regen peitscht über das verlassene Rollfeld des kleinen Regionalflughafens. Ein Empfangskomitee aus den Lokalgrößen der britischen Labour Party, Fernsehteams, Reportern und dem obligatorischen kleinen Mädchen mit Blumenstrauß haben unter dem Vordach der Gepäckausgabe Zuflucht gesucht. Dann landet die Maschine mit dem hohen Gast aus London. Alles stürmt aufs Rollfeld, um Neil und Glenys Kinnock zu begrüßen: die Photographen, um den „photo call“ wahrzunehmen, die Kandidaten der Labour Party, um ihrem Chef die Region vorzustellen. Teeside im Nordosten Englands, einstmals blühendes Industriegebiet, ist nach acht Jahren konservativer Herrschaft die Region mit der höchsten Arbeitslosenrate Großbritanniens, nämlich über 15 Prozent. Der Nordosten ist traditionelles Labour–Territorium. Von den 30 Wahlkreisen hält Labour 25, nur drei Labour– Kandidaten sind Frauen. „Um 21 Uhr abends, nach dem dritten Bier“, so erzählt die Kandidatin Majorie Mowlam von ihren Wahlkampfabenteuern in den Arbeiterclubs von Middlesborough, „sollte ich meine Rede beendet haben, sonst nimmt mich als Frau dort keiner mehr Ernst“. Neil hat mittlerweile das bibbernde Mädchen mit dem Blumenstrauß geküßt. „Smashing“, sagt er. Alle tragen sie die rote Rose im Knopfloch und strahlen - von den jüngsten Meinungsumfragen ermutigt - heftig um die Wette. „Jetzt müssen wir aber weiter“, drängt Neils Pressesekretärin. Der Troß springt in die bereitstehenden Busse und PKWs und fährt Richtung Middlesborough in den Wahlkreis von „Stockton South“ davon. Dort, in der Greenland Avenue Nr. 46 angekommen, scheinen die Bühnenbildner den Set aus „Brookside“, einer der so beliebten englischen „soap operas“ aufgebaut zu haben. Doch die Begeisterung für die Kinnocks ist echt. Neil ist hier in seinem Element, er ist der britische Politiker, der am besten in der Menge badet. „Hier, Neil, komm zu uns rüber“, kräht ein Grüppchen graumelierter Ladies in ihren verschossenen Anoraks mit dem Labour–Hütchen auf der Dauerwelle. Neil - herzlich, natürlich, Küßchen hier und da - findet ein paar aufmunternde Worte. „Smashing, ihr seid so wonderful, wählt ihr auch alle Labour?“ Ein euphorisches „Ja“ schallt wie aus einem mit Rentnern besetzten Kasperletheater zurück. Die Chancen Labours, der sozial–liberalen Allianz den Wahlkreis wegzunehmen, stehen nicht schlecht. Den jüngsten Meinungsumfrgen zufolge hat Labour durch seinen bisher äußerst erfolgreichen Wahlkampf vor allem in den Wahlkreisen mit knappen Mehrheiten zu den Tories aufgeschlossen. Stockton South ist einer dieser „marginals“, deswegen ist Kinnock hier - und wegen der Familie Wards: vier Generationen auf Sozialhilfe unter einem Dach. Vater Bob, ein nach sieben Jahren Arbeitslosigkeit vorzeitig pensionierter Lastwagenfahrer, stellt im Wohnzimmer der Sozialwohnung seine „Sozi–Sippe“ vor: Von Oma Vera (72) bis zum Enkel Brian sind alle auf staatliche Hilfe angewiesen. Nach der eher deprimierenden Stipvisite bei den Wards hastet Neil weiter in das Kings Arms– Hotel von Darlington, wo er im Lokalradio den Fragen der Einwohner Rede und Antwort stehen muß. Kaum einer der Anrufer zweifelt an Labours Kompetenz in den sozialen Problembereichen des Gesundheits– und Erziehungswesens. Die Verteidigungspolitik allerdings, mit Labours Verspre chen einer einseitigen nuklearen Abrüstung, so eine ganze Reihe der Anrufer, lasse sie dann doch wieder für den konservativen Kandidaten Michael Fallon stimmen. Jener Michael Fallon, der jung–dynamische Abgeordnete für Darlington, wetzt unterdessen die Wilson Street auf und ab. Begleitet von zwei Parteifreunden mit der blauen Rosette der Tories im Knopfloch sind sie mit dem „canvassing“ beschäftigt, der spezifisch britischen Ergänzung des Medienwahlkampfs. „Good afternoon, Ms. Hetherington, ich bin Michael Fallon, ihr Vertreter im Unterhaus, darf ich am 11. Juni auch auf ihre Unterstützung hoffen?“ „Jawohl mein Lieber“, er darf, öfter als man dies in dieser ärmlich aussehenden Straße mit ihren vorgartenlosen Reihenhäuschen vermuten würde. Und der Tory–Abgeordnete gewinnt seine Stimmen hier in Darlington ausgerechnet mit dem Arbeitsplatzargument. In der Stadt mit 100.000 hängen über 3.000 Arbeitsplätze von der weiteren Fortschreibung der zivilen und militärischen Atompolitik der Regierung Thatcher ab. Während die Schwerindustrie im benachbarten Hartlepool, Sunderland und Middlesborough ihre Pforten schließen mußte, hat man in Darlington rechtzeitig auf die Atomkraft gesetzt. Bei der abendlichen Kundgebung der Labour Party mit Kinnock in der Turnhalle herrscht ebenfalls Hochstimmung. „Ich begrüße euch zu den letzten sieben Tagen Thatcherismus“, ruft Neil den rund 1.200 Parteitreuen zu, die gekommen sind, um ihrem Idol zuzuhören. In einer 60minütigen Mischung aus Büttenrede, Polemik und politischer Analyse zerstreut der Labour–Führer auch die letzten Zweifel im Saal an einem Wahlsieg seiner Partei. Acht Jahre Spaltung der Nation, „der Despotismus der Arbeitslosigkeit, die Diktatur des Schmerzes und die Apartheid der Benachteiligung“ seien genug. Tosender Beifall und wildes Trampeln beschließt seine Rede. „Here we go“, die klassische Hymne der britischen Arbeiterbewegung erschallt spontan von den Rängen. Wenn Labour hier in Darlington nicht gewinnt, das wissen alle, dann hat es gegen Frau Thatcher keine Chance. Noch führen die Konservativen in den Meinungsumfragen, aber die auch in Darlington beeindruckende Aufholjagd Neil Kinnocks ist noch nicht zu Ende.

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