„Die Rebellion wird kommen“ in Marseille

■ „SOS Racisme“ und Le Pens „Nationale Front“ kämpfen in Marseille um die Entscheidung für oder gegen Ausländerfeindlichkeit / Nirgendwo in Frankreich haben sich die politischen Fronten mehr herauskristallisiert

Aus Marseille Georg Blume

„La Canebiere“ ist die schönste Straße von Marseille. Darüber ist sich Marseille einig. Liebevoll, mit einer Spur vom ewigen Neid auf die Hauptstadt nennt man sie den „Champs–Elysees am Mittelmeer“. Um die Canebiere ist man in Marseille immer zu streiten bereit. Ihr Ansehen ist das Ansehen der Stadt. Das heutige Ansehen des prächtigen Boulevards ist das eines Schlachtfeldes. Die Schlacht um Marseille ist hier entbrannt und vielleicht, die Stadt denkt in großen Zügen, die Schlacht um Frankreich. Le Pen kam als erster, schon vor zwei Monaten. Er kam in seine Hochburg Marseille und zog mit 10.000 rechtsradikalen Anhängern über die Canebiere. Jetzt nahm die Linke, wennwohl gespalten, die Herausforderung an. Am Sonnabend folgten 15.000 dem Aufruf des Komitees „Marseille–Fraternite“, dem die sozialistische Partei und die Antirassismus–Organisation SOS.Racisme angehören. 5.000 Menschen hatten bereits zwei Tage zuvor mit der Kommunistischen Partei demonstriert. Doch Le Pen ließ die Ereignisse nicht unvernommen vorbeiziehen. Am Sonntag war er selbst wieder in Marseille und hielt vor 4.000 zahlenden Gästen in der Messehalle der Stadt eine seiner routinierten Hetzreden. „In Marseille“, so sagt Harlem Desir, Vorsitzender von SOS.Racisme, „entscheidet sich die Auseinandersetzung um die Immigration in Frankreich.“ - „In Marseille“, dröhnt Le Pen am Sonntag, „sind wir die ersten bei den Wahlen und die ersten auf der Straße.“ Längst ist die „Front National“ von Jean–Marie Le Pen die stärkste Partei der Stadt. Bei den letzten lokalen Wahlen kletterte ihr Stimmenanteil hier auf 26,5 Im regionalen Parlament bestimmt sie in einer Koalition mit der rechts–liberalen UDF die Politik. Ihre Funktionäre, unter ihnen Intellektuelle und angesehene Bürgerliche der Stadt, bewegen sich in der Marseillaiser Politszene wie Fische im Wasser. Ohne Probleme können sie sich von rassistischen Gewaltakten abgrenzen. Sie genießen öffentlichen Respekt. Nichts scheint die Front National mehr aufzuhalten auf dem Weg der Eroberung des Marseiller Rathauses. 1989 wird der neue Bürgermeister gewählt werden, und die UDF ist koalitionsbereit. Fällt Frankreichs größte Provinzmetropole in die Hand Le Pens? Ist Marseille rassistisch? Seit 1953 regieren die Sozialisten Marseille mit der absoluten Mehrheit. „Ich bin der Bürgermeister aller, die in Marseille leben,“ ruft Stadtchef Robert Vigouroux den Demonstranten, den Ausländern von Marseille entgegen. Er nennt seine Stadt die „Pforte zum Orient“, doch der Traum der Weltoffenheit ist heute ausgeträumt. Am Rande der Demonstration gleichen sich die Kommentare. „In Marseille ist man frei, man schreit, man schimpft, man hat seine Meinung,“ erzählt ein Bauarbeiter. „Verschiedene Rassen gab es hier immer. Aber jetzt gibt es zu viele Araber.“ Das ist der neue Konsens der Stadt: zu viele Araber. Man sieht sie überall, gerade im Zentrum. Belsunce heißt das Stadtviertel an der rechten Seite der Canebiere, in dem die arabische Bevölkerung Zuflucht gesucht hat. Die heruntergekommenen Häuser können nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier ein reges kommerzielles Leben herrscht. Belsunce ist der Umschlagplatz der nordafrikanischen Waren für die maghrebinische Bevölkerung ganz Frankreichs. Belsunce ist das letzte Viertel von Marseille, das noch mit dem Hafen lebt und prosperiert. Gerade dieses Phänomen trifft Marseille. „Mein liebster Platz in Marseille ist der alte Hafen,“ sagt Patrick, ein 25jähriger Gärtner und Anhänger von Jean–Marie Le Pen. Jahrhundertelang war der Hafen Inbegriff für Reichtum und Wachstum von Marseille. Durch den Hafen kamen die Immigranten, deren Anteil an der Stadtbevölkerung seit 1900 über 20 Prozent beträgt. Mit der Schiffahrtskrise aber wurde der Hafen zum Verhängnis von Marseille, denn eine eigenständige Industrie hat die Stadt nie aufgebaut. Die offizielle Arbeitslosenzahl liegt heute bei 15 Prozent, schon weit über dem Landesdurchschnitt, ist aber wahrscheinlich noch sehr viel höher. „Marseille ist eine vergessene Stadt, eine Stadt am Rande mit schlechtem Image,“ beschwert sich Patrick. „Als ich bei der Armee war und sagte, daß ich aus Marseille komme, hat man mich nicht mehr beachtet.“ Viel anders ist es Ali, der jung mit den algerischen Eltern nach Marseille–Belsunce kam und hier Abitur machte, auch nicht ergangen. „Marseille ist wie ein Kessel, aus dem man nicht entrinnen kann,“ sagt er nachdenklich, „er kocht immer weiter, bis er eines Tages platzt.“ Ali hat Steine geschmissen während der Le Pen–Demo auf der Canebiere. „Ich habe keine Angst,“ sagt Patrick, der mit Le Pen demonstrierte. „Die Rebellion wird kommen.“ Mit den Demonstrationen haben sich die Marseiller Verhältnisse nun politisch kristallisiert. Anders als die großen Festivals von SOS.Racisme in Paris verlief die antirassistische Kundgebung in Marseille. Es wurde nicht gefeiert, es wurde demonstriert, mit wütenden Parolen gegen Le Pen. Beim abendlichen Rockkonzert am alten Hafen mit den bekannten engagierten Musikstars hatte sich die Menge bereits wieder zerstreut. Ähnlich verlief der Sonntag mit Le Pen. Die Messehalle drohte beim Applaus für den Führer der Front National zu zerbersten, seine Attacken gegen die Sozialisten und SOS.Racisme rissen die Zuhörer von den Stühlen, doch der große Ball, zu dem die Front National am Abend einlud, war schlecht besucht. In Marseille tobt eine Schlacht, von der man in Paris kaum Kenntnis nehmen will. In der Hauptstadt zerfließen die politischen und sozialen Konflikte im grellen Schein von Medien und Palästen. Nahezu unbemerkt hat Le Pen die Geschehnisse in der Mittelmeermetropole unter seinen Einfluß gebracht. Seine politischen Gegner überzeugen sich gerade erst vom Ernst der Lage. Die Canebiere trennt traditionell das arme vom reichen Marseille. Doch bald könnte es heißen, daß sie Franzosen und Ausländer trennt.