Am Tropf der sozialen Bewegungen

■ Die Gewerkschaften profitieren von der Politisierung der Frauen und der Aktivitätsbereitschaft der Grünen / Eine umstrittene Infas–Untersuchung zum politischen Bewußtsein von Arbeitnehmern im Widerstreit der Apparatinteressen / Die politische Entscheidung nimmt den Gewerkschaften niemand ab

Von P. Troika

Die Gewerkschaften leiden unter Zukunftsangst. Zwischen 1981 und 1984 verloren sie 297.000 zahlende Mitglieder (= 3,8 Ihr strukturelles Organisationsproblem besteht hauptsächlich in zwei Ungleichgewichten: Erstens ist die Altersstruktur der DGB– Mitgliedschaft höher als die der abhängig Beschäftigten insgesamt. Im genannten Zeitraum sanken die Mitgliederzahlen im Jugendbereich überproportional; die Gewerkschaften drohen zu „Vergreisen“; zweitens entspricht die heutige Mitgliederstruktur des DGB der Erwerbstätigenstruktur der frühen 50er Jahre. In der Organisierung der Angestellten wurden seit 35 Jahren keine entscheidenden Erfolge erzielt. Können die Gewerkschaften ihre Organisationsverhältnisse in diesen Bereichen nicht verbessern, drohen ihnen Finanzkrisen und politischer Bedeutungsverlust. Diese Organisationskrise wurde zum Ausgangspunkt des aufwendigsten und mit 1,5 Mio. DM teuersten Umfrageprojektes, das die Gewerkschaften bisher starteten und mit dessen Durchführung das SPD–nahe Infas–Institut betraut wurde. Als jedoch 1986 die ersten Auswertungen zum „Wandel des politischen Bewußtseins bei Arbeitnehmern“ vorlagen, hatte sich die „politische Großwetterlage“ verschoben. Die Mitgliederzahlen stiegen - wenn auch nur geringfügig - seit 1985 wieder an, und der DGB stand mit seinem Neue–Heimat– Skandal mit dem Rücken an der Wand. Statt Problemanalyse war jetzt Erich Kästner gefragt: Wo bitte bleibt das Positive? Voll im Trend Infas–Mitarbeiter Krieger lieferte es mit seiner ersten Studie. „Die Gewerkschaften sind nicht in der Krise. Sie sind weder die Dinosaurier des Industriezeitalters noch ein ADAC der Arbeitswelt, sondern liegen mit ihrer Politik voll im Trend!“ Mit solchen oder ähnlich markigen Sprüchen informierte die Gewerkschaftspresse über Kriegers erstes Produkt. Die zentralen inhaltlichen Aussagen lauten: 1. Die gewerkschaftlichen Konzepte zur Gestaltung der Lebens– und Arbeitsbedingungen unter den Bedingungen des technischen Wandels sind attraktiv und glaubwürdig. Der Gegensatz zwischen „traditioneller“ Politik als materieller Daseinsfürsorge und „neuer“ Politik mit alternativen Themen wie Umweltschutz sei heute „bei einem beträchtlichen Teil der Berufstätigen nicht mehr zu beobachten“. 53 zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. 2. Durchschnittlich 8–14 Beschäftigten beträgt der Anteil der „Organisationsreserve“ genannten beitrittswilligen Arbeiter und Angestellten. Die Beitrittsbereitschaft von Arbeitern und einfachen Angestellten soll in den bereits modernisierten (12 besonders in den an der Modernisierungsschwelle stehenden Betrieben mit 14 gewerkschaftliche Organisationsgrad mit 43 sein. Als Erklärung dafür dient die mit technischen Veränderungen verbundene Verunsicherung der Arbeitnehmer und die Gefährdung ihrer beruflichen Situation. Bei fast allen Angestelltengruppen ergab sich „ein positiver Zusammenhang zwischen der Ver wendung moderner Arbeitsmittel und der Nähe zur Gewerkschaft“. Keine Angst vor der Modernisierung, so die Botschaft, sie treibt uns die Mitglieder und vor allem die heiß umworbenen „modernen“ Arbeitnehmer in hellen Scharen zu. In den Hoch–Zeiten des Neue– Heimat–Tiefs mochten diese Jubel–Gemälde als PR–Gag dienen und Ernst Breit in die Lage versetzen, der Öffentlichkeit zumindest für einen Tag ein erbaulicheres Meinungsbild über die Gewerkschaften vorzutragen. Die in einem Beraterkreis mit der Studie befaßten Gewerkschaftspraktiker jedoch stolperten über den Widerspruch zwischen der vom Infas–Computer kreierten heilen Gewerkschaftswelt und ihren alltäglichen Erfahrungen. Der Mitgliederzuwachs „moderner Arbeitnehmer“ mußte sich an ihnen vorbei ereignet haben. Denn allzu offensichtlich entsprang der mittlerweile wieder in Fluß gekommene Mitgliederstrom nicht den von Infas georteten Quellen sondern nahezu einem einzigen Born: überwiegend im Dienstleistungsbereich beschäftigten Frauen. Die Praktiker jedenfalls verlangten eine Nachbesserung der Analyse. Seit zwei Monaten zirkuliert nun eine zweite Studie aus demselben Institut der Feder desselben Autors auf Basis derselben Daten, die zum Entsetzen aller Beteiligten zu diametral entgegengesetzten Schlußfolgerungen kommt. Politische Erwartungen an die Gewerkschaften 1. Der gewerkschaftlichen und auch neuen Themen gegenüber aufgeschlossenen Arbeitnehmer der ersten Studie weicht einer engstirnigeren Ausgabe Mensch. Absoluten Vorrang, so die Studie nunmehr, hat für die Beschäftigten die materielle Existenzsicherung (Lohnpolitik, Bekämpfung der Arbeitslosigkeit); neuen Politikbereichen (Umwelt, Frieden) steht die Mehrheit der Befragten ebenso indifferent gegenüber wie der Arbeitszeitverkürzung und der Gestaltung der Arbeitsbedingungen als Themen der qualitativen Tarifpolitik. Diese Einstellungen unterscheiden sich bei Beschäftigten mit sicheren und unsicheren Arbeitsplätzen kaum. 2. Die Dominanz der quantitati ven Tarifpolitik gelte in ähnlichem Umfang auch für Gewerkschaftsmitglieder, die für diese Interpretation eine extra Schelte kassieren. Infas hält es nämlich für bemerkenswert, daß „in den drei strategischen Handlungsfeldern einer auf Zunkunftsgestaltung ausgerichteten Gewerkschaftspolitik Gestaltung von Arbeitsbedingungen, Arbeitszeitverkürzung und Mitbestimmung im Betrieb nur ca. drei von fünf Gewerkschaftsmitgliedern besondere Aktivitäten von den Gewerkschaften für die Zukunft einfordern“. Hier zeige sich ein mangelndes Problembewußtsein innerhalb der Mitgliedschaft. Wie viele andere Wertungen ist auch diese verblüffend willkürlich, methodisch fragwürdig und stärker subjektiven Intuitionen als zwingenden Beweisen folgend. Beide Studien scheinen eher einen Wandel der Interpretation ihres Verfassers zu dokumentieren, als daß sie ihrem Anspruch gerecht würden, einen Wandel im Bewußtsein der Arbeitnehmer aufzuzeigen. Darüber hinaus macht der schnelle Einstellungwandel des Autors in exemplarischer Weise deutlich, von welcher Kurzlebigkeit und Unverbindlichkeit unter Umständen auch die von der Meinungsforschung erfragten Einstellungen sein können. Insofern keinerlei Vergleichsdaten aus früheren Erhebungen verarbeitet werden, fehlt jeder außerhalb der angefertigten Tabellen selbst liegende Maßstab für eine „objektive“ Beurteilung der ermittelten Daten und Relationen. Wo aber verortet der zweite Bericht die Hochburgen und größten Organisationsreserven der Gewerkschaften? Eine neue Spaltung Eigentlicher Mittelpunkt des zweiten Berichts ist die Frage, wie der in Stamm– und Randbelegschaften gespaltene Arbeitsmarkt das politische Verhalten von Arbeitnehmern bestimmt. Jeweils die Hälfte der Beschäftigten wird nach der Infas–Typologie dem sicheren bzw. unsicheren Beschäftigungssegment zugeordnet. Im Sicherheitsbereich des Arbeitsmarktes bevorzugen 50 , FDP 3 ), während die SPD mit 64 cherheitsbereich anführt (CDU 30 , Grüne 6 der unterschiedlichen Betroffenheit von Arbeitsmarktrisiken sieht die Studie deshalb einen wichtigen Grund für das relativ gute Abschneiden der CDU bei den Bundestagswahlen 1987 trotz der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit. Gewerkschaftliche Bastionen In der Typologie von Infas besteht der höchste Organisationsgrad mit 44 Vollzeitbeschäftigung auf unsicheren Arbeitsplätzen in der Privatindustrie. Nur 23 sind organisiert aber 41 einen fördernden noch einen retardierenden Einfluß auf das Niveau gewerkschaftlicher Organisierung.“ Wird allerdings die Betriebsgröße mitberücksichtigt, wie es dann geschieht, zeigt sich ein ganz anderes Ergebnis. Die spektakulär verbreitete Meldung der ersten Studie schmilzt auf die den Gewerkschaftern geläufige, vorwissenschaftliche Erkenntnis zusammen, daß die Bastionen der Gewerkschaften mit Organisationsgraden von 70 und des gefährdeten Vollzeit–Segments (Stahl, Werften etc.) liegen. Wo der gewerkschaftlichen Schutzfunktion erhöhte Bedeutung zukommt, ist auch die Beitrittsbereitschaft - sogar unabhängig von der Betriebsgröße - mit Werten zwischen 19 und 26 % etwa doppelt so hoch wie im Sicherheitsbereich (12–14 Berg kreißte und gebar ein Mäuslein, wird diese bombastische Erkenntnis intern ironisch kommentiert. „Arbeitnehmer wünschen Harmonie „Nur“ 14 sprechen sich im Rahmen der vorgegebenen Antworten für eine konfliktorische Interessenpolitik im Betrieb aus. Unterschiede zwischen den Alters– oder Personengruppen existieren kaum. Auch mit zunehmender Betriebsgröße und wachsenden innerbetrieblichen Konflikten wächst die Bereitschaft zu einer stärker konfliktorischen Politik (im Großbetrieb: 22 besonders die erheblichen Unterschiede im Politikverständnis von Gewerkschaftsmitgliedern und Nicht–Organisierten hervor und fordert Anpassung statt Aufklärung: „Bei dem Bemühen der Gewerkschaft, ihre Mitgliederbasis zu verbreitern, müssen die dominierenden Vorstellungen der Nicht–Organisierten von einverständlicher, sozialpartnerschaftlicher Konfliktregulierung und ihre Abneigung gegen konfliktorische Vertretungspolitk beachtet werden.“ Die nachweisbare Erfolglosigkeit der IG Chemie, „die“ Angestellten auch nur in geringem Umfang mit der hier angedienten sozialpartnerschaftlichen Politik par excellence (intern „kollektives Betteln“ genannt) ein wenig höher zu organisieren, machen diesen Ratschlag wenig befolgenswert. Allein schon die Lebenserfahrung läßt individuelles Betteln als wesentlich erfolgversprechender erscheinen. Die Studie bestätigt dies mit der Feststellung, daß die Hälfte der unteren und mittleren Angestellten und Beamten die Selbstvertretung ihrer Interessen der organisierten Interessenvertretung vorziehen. In der Praxis der Gewerkschaftspolitik sind Kooperation und Konflikt keine alternativen Handlungsstrategien. Vielmehr setzt die Anerkennung als Kooperationspartner Konfliktfähigkeit voraus. Mit dem Ergebnis, daß den Gewerkschaften die Organisierung der Angestellten gelingen muß und daß dies eine schwierige, bisher unbewältigte Aufgabe ist, kehren beide Studien am Ende hilflos zu ihrem Ausgangspunkt zurück: der Organisationskrise. Zuwachs durch die Frauen Hilfreicher scheint demgegenüber ein unbefangener Blick auf die Entwicklung der weiblichen Mitgliederzahlen zu sein: Während die Gesamtmitgliederzahl im DGB zwischen 1973 und 1986 um 8,3 Frauenbereich 48,8 Frauen bestritten. Wer die Probleme der gewerkschaftlichen Frauenarbeit in der Vergangenheit kennt, die immer auch die Probleme der Gewerkschaftsfrauen mit den Gewerkschaftsmännern waren, weiß, daß diese neue Attraktivität trotz des zähen und beharrlichen Einsatzes von Frauen in den Gewerkschaften nicht von innen heraus entstand oder gar erzeugt werden konnte. Die Gewerkschaften erweisen sich vielmehr als Nutznießerinnen des außerhalb von ihnen entstandenen, durch die autonome Frauenbewegung ausgelösten Politisierungsschubs. Sind die Gewerkschaften in ihren Strukturen erstarrt und in der Selbsttätigkeit ihrer Gremien befangen, daß sie aus ihrem Wirken heraus nicht mehr zur Erweiterung ihrer Mitgliederbasis fähig sind und am Tropf der sozialen Bewegung hängen? Frisches Grün im Gewerkschaftslaub Beide Infas–Studien lassen keinen Zweifel daran, daß nach der Frauenbewegung ausgerechnet die grüne Anhängerschaft, bislang eher als Mitglieder zweiter Klasse behandelt und von Funktionärsposten völlig ferngehalten, im Begriff ist, den Gewerkschaften eine Frischzellenkur zu verpassen. Das größte Mobilisierungspotential der Gewerkschaften liegt heute nicht mehr in der SPD sondern bei den Anhängern der Grünen. Sie überflügeln mittlerweile bei weitem die traditionell den Gewerkschaften nahestehende SPD mit ihrer Bereitschaft zu einem Engagement im Betrieb. Mit 38 35); 70 Vertrauensleute–Wahlen zur Verfügung zu stellen (SPD 47, CDU 37, FDP 43). Die grüne Anhängerschaft beklagt am lautesten den zu geringen Einfluß der Betriebsräte und begrüßt am schärfsten die Einrichtung der gesetzlichen Interessenvertretung in Betrieben ohne Betriebsrat; in solchen Kleinbetrieben sind immerhin 34 Auch in der chemischen Industrie: Grüne ante portas! In der nicht–repräsentativen Regionalstudie über die chemische Industrie im Raum Frankfurt/Darmstadt äußern 8 Angestellten und 5 Präferenzen für die Grünen (SPD 47, CDU 29, FDP 2). Besondere Nähe zu den „Industriefeinden“ (Chemie–Vorsitzender Rappe) offenbaren die technischen Angestellten (11 die Akademiker (15 17 18 ). Noch stärker ist die grüne Anhängerschaft im Bankgewerbe im Raum Frankfurt: Sie umfaßt 23 Das Selbstverständnis mancher Gewerkschaften als große Koalitionen von Christ– und Sozialdemokraten wird hier genauso berührt wie die Vorstellung mancher Grünen, die in den Gewerkschaften nicht viel mehr als Ersatzbündnisse für gescheiterte oder zukünftige rot–grüne Koalitionen zu sehen vermögen. Dennoch: Eine Erneuerung der verkrusteten Strukturen und mehr Pluralität stehen auf der Tagesordnung - schon heute.