Greenpeace reitet auf dem Schornstein

■ Von der Sirius aus enterten Umweltaktivisten das deutsche Schiff Vesta und stoppten die Verbrennung von flüssigem Industriemüll / Am Schornstein angekettet / Polizei beendet Aktion / Sirius beobachtet weiter

Von der Sirius Andreas Wertz

Das Frühstück an Bord der Sirius beginnt mit Muesli und Mozart. Während das Schiff in leichter Nordseedünung rollt, mit Kurs Nordnordost und bei einer Fahrt von elf Knoten - etwa 20 km/h - kocht Anja, die irische Köchin der Crew, den ersten Kaffee. Bis auf Egon, den Maschinisten aus Flensburg und die drei Wachhabenden auf der Brücke sind die meisten der 24 Greenpeacler und vier Journalisten noch im Bett. Sie haben es sich, nach der Aktion von gestern, verdient, und im Moment ist keine Eile, denn der nächste Showdown kommt frühestens heute Abend, wenn wir unser Ziel erreicht haben, das „Gebiet zur Verbrennung von Industrieabfällen“, wie es auf der Seekarte heißt, etwa 90 Kilometer nördlich der friesischen Küste. Seit zwölf Stunden verfolgt die Sirius die Vulkanus 2, das größte zur Zeit in Betrieb befindliche Schiff, das auf hoher See hochgiftigen Chemiemüll verbrennt. 3.000 Tonnen soll sie in Antwerpen geladen haben, einen Teufelscocktail, eingesammelt in ganz Europa. Zwei Tage werden ihre Öfen brauchen, um diese Menge zu verbrennen. Der Verfolgungsjagd war ein aufregender Tag vorangegangen. Er beginnt auf der Westerschelde, dem südlichen Mündungsarm der Maas in die Nordsee, zwischen Antwerpen und Vlissingen. Um elf Uhr Morgens herrscht hier Verkehr wie auf einer Autobahn. Ein Hochseedampfer nach dem anderen schiebt sich durchs Wasser, in Richtung des belgischen Hafens, entlang von Dow Chemical im belgischen Terneuzen, Höchst in Sloehaven auf der ge genüberliegenden Seite, dem holländischen AKW in Dorsseln samt Steinkohlekraftwerk und Raffinerie. Keinen Kilometer davon entfernt warten die Sirus und zwei Barkassen voller Journalisten darauf, daß endlich die Vesta aus Duisburg vorbeizieht. Das deutsche Schiff fährt seewärts, sein orangefarbener Rumpf ragt mittschiffs nicht mehr als einen Meter aus dem Wasser. Auf dem Heck thront ein rostroter Schornstein, gut fünf Meter hoch und drei Meter breit. Die Vesta hat die Sirius kaum überholt, da preschen von deren Rückseite Schlauchboote vor, besetzt mit acht Gestalten in rotem und gelbem Ölzeug. Die Außenborder jaulen, als die Boote über die Bugwellen der Vesta springen, sie umrunden und Backbord am Mittelschiff anlegen. In Windeseile haben drei gelbe Gestalten die Rehling erklommen, rennen zu dem dickbauchigen Schornstein und klettern die Sprossen an seiner Seite hinauf. Auf der Sirius wird geschrien und geklatscht, die Journalisten in den Barkassen fotografieren wie wild. Die Besatzung der Vesta rührt sich nicht. Fünf Leute stehen unter der Brücke am Bug und schauen zu, wie die Greenpeace– Piraten auf dem Schornstein zwei Transparente entrollen: „Ban the Burn, Greenpeace.“ Das Spektakel dauert vier Stunden. Während die Vesta ihren Kurs Richtung Nordsee fortsetzt, wächst der Journalisten–Konvoi ständig an. Auf der Höhe von Vlissingen steigt der Seelotse auf der Vesta zu. Die Küstenwacht ist nun auch mit einem Boot dabei. Hinter Vlissingen beginnt die See, und hier entert eine zweite Greenpeace–Gruppe die Vesta. Vier Männer und zwei Frauen sind nun auf dem Schornstein. Als sie sich anketten, ruft der Kapitän der Vesta die Küstenwacht und läßt beidrehen. Der Konvoi stoppt, fünf Kilometer vor der seeländischen Küste. Die Verhandlungen dauern über eine Stunde. Dann nimmt die Vesta wieder Kurs auf Vlissingen. Um Viertel nach Drei wirft sie Anker in der Westerschelde. Zwei Polizeiboote umkreisen das Schiff, ein Drittes legt an. Vier Herren beginnen mit einer armlangen Zange die Handschellen aufzukneifen, mit denen sich die sechs Greenpeacler am Schornstein festgekettet haben. Die Befreiten lassen sich ohne Widerstand abführen. Ein Vesta–Mann schießt ein Erinnerungsphoto. Auf dem Polizeiboot scherzen die Festgenommenen mit den Beamten. „Two years in jail“, ruft Hans Goijz, der Sektionsleiter von Greenpeace–Holland den sechs Polizisten zu. Drei Stunden später sind sie wieder frei. Inzwischen sind die Vulkanus und die Vesta wieder in das Verbrennungsgebiet auf der Höhe der Deutschen Bucht gefahren. Auf der Vulkanus, der seine Reise des Nachts unternahm und hellerleuchtet war wie ein Luxusdampfer, hatte sich die Besatzung auf rund um die Railing verteilt und ihre Hochdruckwasserschläuche in Betrieb genommen. Damit wollte man verhindern, daß Greenpeace einen weiteren Enterungsversuch unternahm. Die Sirius jedoch hatte sich nach der voraus gegangenen Aktion entschlossen, keine weitere Kaperung zu versuchen, sondern den Verbrennungsschiffen zu folgen und es vorerst dabei zu belassen, das schmutzige Treiben zu beobachten.