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Grenzwertediskussion stößt an Grenzen

■ Euro–Parlament stimmt überraschend einstimmig für niedrigere Grenzwerte / Bericht der Grünen–Abgeordneten Undine Bloch von Plottnitz angenommen / Ministerrat einigte sich am Donnerstag über Höchstwerte für radioaktiv belastete Nahrungsmittel

Aus Straßburg Th. Scheuer

In der Europäischen Gemeinschaft wird es ab Sonntag keine rechtlich verbindlichen und einheitlichen EG–Höchstwerte mehr für die Radioaktivität in Lebensmitteln geben. Die EG–Botschafter scheiterten in Brüssel bei dem Versuch, die nur noch bis Samstag geltende EG–Regelung zu verlängern oder sich auf neue Strahlungs–Obergrenzen zu einigen. Zuvor hatte das Europäische Parlament eine deutliche Senkung der Höchstwerte für radioaktiv belastete Nahrungsmittel gefordert. Einen entsprechenden Bericht, den die Grünen–Abgeordnete Undine Bloch von Plottnitz im Namen des Umweltausschusses vorgelegt hatte, nahm die Straßburger Versammlung am Mittwoch abend überraschend über alle Partei– und Fraktionsgrenzen hinweg einstimmig an. In der Debatte hatte der für Umweltfragen zuständige EG–Kommissar Clinton Davis angedeutet, daß der Ministerrat die momentan geltenden Werte möglicherweise verlängern und damit Spielraum für weitere Verhandlungen schaffen könnte. Diese Prognose hat sich nun nicht bewahrheitet. Die derzeit geltenden für die radioaktive Belastung von Nahrungsmitteln, Futtermitteln und Trinkwasser wurden nach der Tschernobyl–Katastrophe festgesetzt. Danach dürfen Milch und Milchprodukte mit bis zu 370 Bq pro Kilogramm oder Liter, alle anderen Lebensmittel mit höchstens 600 Bq radioaktiv belastet sein. Beide Werte beziehen sich auf die nach Tschernobyl dominierende Caesium–Belastung. Sie betreffen nur Lebensmittelimporte aus Drittländern. Die Kommission hatte ihrerseits einen „Vorschlag für eine Verordnung zur Festlegung von Höchstgrenzen der Radioaktivität in Nahrungsmitteln, Futtermitteln und Trinkwasser im Falle anormaler Radioaktivitätswerte oder eines nuklearen Unfalls“ vorgelegt, der im Gegensatz zur noch bis Samstag geltenden Regelung zwischen verschiedenen Nahrungsmitteln und Isotopen differenziert und dabei in allen Fällen eine drastische Erhöhung der jeweils zulässigen Strahlendosis vorsieht. Sie liegen vielfach sogar über den nach Tschernobyl gemessenen Dosen. Scheinbar setzt die Kommission auf eine Art nuklearer Abhärtung der EG–Bürger. „Sie scheint nach dem Motto zu verfahren“, kritisierte die Grüne Bloch von Plottnitz das Kommissions–Papier, „gesund ist, was wirtschaftlich verkraftbar ist.“ Das früher von der Atomgemeinde hochgehaltene Minimierungsgebot werde durch rein wirtschaftliche Erwägungen ersetzt. So sollen Milchprodukte bis zu einer Belastung von 500 Bq Jod– und Strontium und 1.000 Bq Caesium noch zugelassen werden; Trinkwasser gar bis zu 3.000 Bq Jod und Strontium und 1.250 Caesium. Andere Nahrungsmittel sollen 400 Bq Jod und Strontium und 800 Bq Caesium aufweisen dürfen. Das Europäische Parlament dagegen fordert nun eine deutliche Herabsetzung der Höchstwerte: Milchprodukte sollen nur mit 130 Bq Jodisotopen, 25 Strontiumisotopen und 100 Bq Caesium belastet sein dürfen. Trinkwasser mit 110 (Jod), 20 (Strontium) und 80 Bq (Caesium); andere Nahrungsmittel mit 1.300 (Jod), 150 (Strontium) und 125 (Caesium). Risikogruppen wie etwa schwangere Frauen oder Kleinkinder sollen nach dem Willen des EP gar einen Anspruch auf unbelastete Nahrung erhalten. Ferner will das EP in den entsprechenden Experten– Gremien auch atomkritische Fachleute vertreten wissen. Vor allem aber will das Parlament die Höchstwerte auf einer völlig anderen Rechtsgrundlage angesiedelt wissen als die Kommission. Während diese die fällige Neuregelung im Rahmen des EURATOM–Vertrages treffen will, fordert das EP als Rechtsgrundlage die Einheitliche Europäische Akte, jene im Dezember 1985 verabschiedete Reformergänzung der EG–Verträge, anzuwenden. Der kleine Unterschied: Nach dem EURATOM–Vertrag muß das EG–Parlament lediglich „konsultiert“ werden, während die Akte ein, wenn auch bescheidenes, Mitspracherecht einräumt.

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