: Arbeitszeit im Abendland: Du sollst den Feiertag heiligen
Sonntagsarbeit verschärft Konflikt zwischen Kirchen und Wirtschaft / Kirchliche Solidarität mit den Gewerkschaften bei Kampf um Arbeitszeit ■ Von Wolfgang Kessler
„Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?“ Sind wir in der Kirche? Nein, diese Fragen wurden auf einem Demonstrationsflugblatt gestellt, aber es war schon bei einer Demonstration besonderer Art verteilt worden. Vor einer Produktionsstätte der IBM in Sindelfingen bei Stuttgart fand eine von den Initiatoren „Feldgottesdienst“ genannte Veranstaltung statt. Anlaß war die geplante Einführung einer Sonntagsschicht in der Chip-Produktion.
Diese Gemeinschaftsaktion von Kirche und Belegschaften gegen betriebliche Entscheidungen ist derzeit kein Einzelfall. Schon kurz nach der Nachricht über die Schließung des Stahlwerkes im Duisburger Stadtteil Rheinhausen organisierten über hundert Pfarrer beider Konfessionen Feldgottesdienste in Solidarität mit den von Entlassung bedrohten Stahlarbeitern. Ähnliches geschah vor der Maxhütte, einem ebenfalls angeschlagenen Stahlwerk in Bayern. Regelmäßig organisiert der katholische Betriebsseelsorger Bernhard Simon dort Feldgottesdienste, um die Öffentlichkeit auf die Bedeutung des Stahlwerkes für das ganze Leben in dieser Region aufmerksam zu machen. Während viele das Engagement von Priestern im Falle der Stahlarbeiter noch als Seelsorge mit „Bürgern in Not“ auffaßten, handelt es sich bei der Frage der Sonntagsarbeit um eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Bedeutung der Wirtschaft für die Menschen. Die Unternehmensseite argumentiert rein betriebswirtschaftlich: Die hochempfindliche Chip-Produktion weist derzeit eine Ausschußrate von 50 Prozent auf. Durch die ständige Auslastung der Maschinen kann diese Ausschußrate auf 30 Prozent vermindert und die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Chip-Produktion in Zukunft gesichert werden. Für IBM- Werksleiter Klaus Kuhnle ist die Sieben-Tage-Schicht deshalb „vor allem eine Frage des Erhalts von Arbeitsplätzen. Durch die Sonntagsschicht können wir 100 neue Arbeitsplätze schaffen.“
Für kirchlich engagierte Arbeitnehmer, insbesondere in der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), und für viele Betriebsseelsorger, bricht die Wirtschaft mit der Sonntagsarbeit ein Tabu, das weit über die biblische Tradition des Sabbats hinausreicht. Sie sorgen sich um die Zu kunft der Gesellschaft: „Jede Gesellschaft braucht einen kollektiven Ruheraum, der ein gemeinsames Durchatmen, gemeinsames Feiern ermöglicht“, rechtfertigt der Sindelfinger Betriebsseelsorger Paul Schobel sein Engagement gegen eine innerbetriebliche Entscheidung. „Wenn dieser Sonntag in den Produktionsprozeß einbezogen wird, dann wird die Wirtschaft zur alleinigen Entscheidungsgröße im Leben, ihrer Rentabilität opfert man die Gemeinschaft. Insofern schafft Sonntagsarbeit wirklich Arbeitsplätze...im Bereich der Mediziner, Psychiater und Seelsorger.“ Und Schobel weiß durchaus, wovon er spricht, denn im Rahmen seiner Betriebsseelsorge hat er fast täglich mit den negativen Folgen der hochmodernen Zukunftsindustrien – von Alkoholismus über Beziehungsproblemen bis hin zu hochgradigen psychischen Störungen – zu tun.
Die Auseinandersetzung um die Sonntagsarbeit hat inzwischen zu Konflikten und Bündnissen geführt, die noch vor einigen Jahren undenkbar schienen. So wehrt sich die traditionell christdemokratisch orientierte KAB mit aller Schärfe gegen den Regierungsentwurf eines neuen Arbeitszeitgesetzes, das die Sonntagsarbeit zwar verbietet, aber Ausnahmen zuläßt, wenn „chemische, biolobische, technische oder physikalische Gründe einen Fortgang der Produktion erfordern“. Ein Gespräch des Rothenburger Bischofs Georg Moser mit Lothar Späth führte zu einem Briefwechsel zwischen der baden-württembergischen Landesregierung und dem Bundesarbeitsminister, in dem Norbert Blüm zwar auf das Verbot der Sonntagsarbeit, nicht aber auf die Ausnahmen einging.
Auf der anderen Seite solidarisieren sich viele Priester und andere engagierte Christen mit den Gewerkschaften, die bei weiterer Zunahme der Sonntagsarbeit einen regelrechten Dammbruch erwarten. Diese Befürchtung wurde gerade erst durch die Textilindustrie bestätigt, die aus Wettbewerbsgründen künftig ebenfalls auf die Sonntagsarbeit setzen will. Seite an Seite mit den Kirchen wollen die Gewerkschaften dies verhindern. Die Voraussetzungen für gemeinsame Aktivitäten vor Ort sind dabei günstiger als vielfach angenommen wird, denn seit längerem treffen sich Priester und Theologen beider Konfessionen regelmäßig mit führenden IG-Metall-Funktionären. Als Grundlage für ihre Zusammenarbeit beziehen sich beide Gruppen auf eine Grundforderung der Katholischen Soziallehre: „Die Wirtschaft muß dem Menschen dienen und nicht umgekehrt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen