Glasnost ruft den Feminismus auf den Plan

■ Erstmals kritischer Artikel über die „neue Männergesellschaft“ in der UdSSR erschienen / Die Autorin Maja Ganina fordert praktizierte Gleichberechtigung, sonst könne Gorbatschow mit seinen Reformen einpacken / Denn: „Es gibt keine gleichen Chancen“

Moskau (rtr) – In der amtlichen Wochenzeitung Moskauer Nachrichten meldete sich die sowjetische Schriftstellerin Maja Ganina zu einem Tabu-Thema zu Wort. Zum ersten Mal wurde in der Öffentlichkeit über die UdSSR als einer reinen Männergesellschaft gesprochen. Den Frauen blieben die Spitzenjobs verschlossen, schrieb sie und warnte, die Reformpolitik Parteichef Michail Gorbatschows werde scheitern, wenn sie nicht die Frauen erreiche.

„Warum sollen die Frauen für die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fehler der Männer bezahlen, nur weil jene die Befehlsposition innehaben?“, fragte Frau Ganina. Sie reklamierte Wiedergutmachung in Form praktizierter Gleichberechtigung.Wie sie jene Zeit der Friedhofsruhe empfunden hat, schildert sie in ihrem neuen Roman „Solange ich lebe, hoffe ich“, der kürzlich in der Literaturzeitung Oktober erschienen ist. Sie beschreibt, wie Menschen verhaftet wurden, weil sie gegen den Machtmißbrauch protestierten. Auch in der UdSSR müßten Frauen die doppelte Arbeit leisten: auf den Feldern, den Baustellen und in den Fabriken, und dann als Hausfrauen und Mütter. Besonders betroffen seien die Frauen auf dem Lande.

In den landwirtschaftlichen Betrieben leisteten sie Schwerstarbeit – auch daheim, denn Haushaltsgeräte seien teuer. Geheizt werde mit Holz, das die Frauen zu sammeln hätten, und das Wasser müßten sie eigenhändig pumpen. Kleidung und Schuhwerk seien von schlechter Qualität. „Die Regale der Dorfläden sind leer. Aber die Zahlung in Naturalien ist abgeschafft worden und wird nun in Papiergeld geleistet, für das man sich hier nichts kaufen kann“, beschrieb sie in den Moskauer Nachrichten eine Lage, die sie aus eigener Anschauung kennt, denn sie und ihr Mann leben auf dem Lande.

Ganz besonders aber setzte sie sich für die Frauen ein, die im Zweiten Weltkrieg an der Heimatfront schufteten. Zur 40-Jahr- Feier des Kriegsendes seien die Frauen übergangen worden, keine Auszeichnung „für die Frauen, die uns Nahrung geben, die 12 bis 14 Stunden am Tag in den Fabriken arbeiten, ohne freie Tage, hungernd, zerlumpt und frierend“. Es sei noch nicht zu spät, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, noch lebten viele dieser Frauen.

Gerechtigkeit, so Frau Ganina, können auch die jungen Frauen in der UdSSR nicht erwarten. Voller Neid schauten sie auf „selbstbewußte Frauen“ im kapitalistischen Ausland, obwohl dort die Frauen auch nicht gleichberechtigt seien. Sie habe viele Briefe verbitterter Frauen bekommen, die sich hätten hocharbeiten wollen und dann hinausgeworfen wurden. In der Tat gibt es in der Sowjetunion so gut wie keine Frauen in Führungspositionen. Im Politbüro der Partei, der Machtzentrale, sitzt keine. Und im Zentralkomitee eine einzige – die 1986 ernannte Sekretärin für Soziales, Arbeit und Frauenfragen, Alexandra Birjukowa. Frau Ganinas Fazit: „Seien wir doch ehrlich: Es gibt keine gleichen Chancen für Jungen und Mädchen.“ Mary Ellen Bortin