Enklavenkrieg

■ Zu den Demonstrationen in Armenien

Was in Armenien und Aserbeidschan aufbricht, ist nicht nur antirussischer Nationalismus, es ist auch ein innerkaukasischer Fall. Die christlichen und nationalbewußten Armenier haben den osmanischen Genozid von 1915 nicht vergessen. Die moslemischen Aserbeidschaner, deren Sprache in Anatolien mühelos verstanden wird und die im Konfliktfall eher pro–türkisch sind, gelten zwar nicht als Täter, aber als deren nächste Verwandte. Das Autonome Gebiet Bergkarabach liegt von Eriwan aus gesehen daher im Feindesland, seine Bewohner erleiden eine nationale Bedrückung. Autonomieregelungen, die ursprünglich als Minderheitenschutz gedacht waren, erscheinen so als Verschwörung gegen die armenische Nation. Das gilt auch für die im Süden an den Iran grenzende, sonst von Armenien umschlossene Autonome Republik Nachidschewan. Sie wird zwar überwiegend von Aserbeidschanern bewohnt; für armenische Nationalisten aber gehört sie zum legitimen historischen Territorium Armeniens. Schuld an diesen Regelungen ist Moskau, das 1921 nicht nur Erzerum und Kars an die Türkei abtrat, sondern entgegen armenischen Ansprüchen auf ganz Anatolien verzichtete. Weil die Russifizierung auch durch Industrialisierung und Migrationen gefördert wird, kann sich der nationalistische Protest mit dem ökologischen zusammenschließen. Das Gerücht, die Russen wollten mittels Umweltzerstörung Armeniens auch dessen Bewohner ausrotten, ist nur dessen fantastischer Ausdruck. Die sowjetischen Truppen bieten sich in der gegenwärtigen Situation sichtbar als Hauptfeind an. Wären aber die beiden Staaten wirklich unabhängig, gäbe es jetzt wahrscheinlich Krieg und Massaker. Erhard Stölting