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I N T E R V I E W „Im Vordergrund steht die Wählbarkeit der Leiter“

■ Gennadi Jagodin, seit Anfang März Vorsitzender des staatlichen Komitees der sowjetischen Volksbildung, vormals Minister für Bildung, zur Reform des sowjetischen Bildungssystems

Auch das ist heute in der UdSSR möglich: Im Zuge der Bildungsreform wurde seit der ZK–Konferenz Mitte Februar ein Minister zum Vorsitzenden des „Komitees für Volksbildung“ zurückgestuft. Das Bildungswesen soll revolutioniert und aus der Lethargie der letzten Jahre gerissen werden. Über die Inhalte dieser Reform, über die Demokratisierung des Bildungssystems und über die Mitbestimmung der Schüler und Studenten haben wir den ehemaligen Minister befragt. Gennadi Jagodin ist 60 Jahre alt, Professor für Chemie und Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Er gilt als Reformer. Die Fragen wurden schriftlich gestellt und schriftlich beantwortet. taz: Im Vorfeld der Debatte im ZK der KPdSU im Februar dieses Jahres über eine allgemeine Reform des Erziehungsgesetzes hat Gorbatschow „radikale Veränderungen“ für notwendig erachtet. Welche Veränderungen sind damit gemeint? Jagodin: Gemeint sind Veränderungen, die sich als notwendig erweisen, um die im Bildungswesen angehäuften Mängel zu beseitigen und es mit den Anforderungen der wissenschaftlich–technischen Revolution in Übereinstimmung zu bringen. Das Plenum des ZK der KPdSU hat die Umgestaltung des Bildungswesens mit zu den Prioritätsaufgaben gezählt und sie in eine Reihe mit der Demokratisierung und der Wirtschaftsreform gestellt. Die Veränderungen sollen recht wesentlich sein und sich von der Verbesserung der Leitung dieses Bereichs im Zentrum und an der Basis bis hin zu der Überprüfung von Lehrprogrammen ausdehnen. Die kennzeichnende Besonderheit der Veränderungen an der Hoch– und Oberschule besteht in ihrer Ausrichtung auf das Schöpfertum der Hauptpersonen im Bildungsprozeß des Schülers und des Schullehrers, des Studenten und des Hochschullehrers, nicht aber auf die Erreichung von „Kennziffern“ und „neuen Posten“. Ein wesentlicher Punkt der Umgestaltung im Erziehungswesen dürfte die „Demokratisierung“ sein. Welche Veränderungen werden da angestrebt? Werden künftig alle Beteiligten mitbestimmen können, auch Studenten und Schüler? Eine der Schlüsselaufgaben der Umgestaltung des Bildungswesens besteht in der Demokratisierung der Hoch– und Oberschule. Dazu gehören: die Wählbarkeit der Leiter, ihre regelmäßige Rechenschaftslegung vor dem Kollektiv, die Einschätzung der Arbeit der Lehrer durch Studenten anhand der soziologischen Untersuchung „der Lehrer, mit den Augen des Studenten gesehen“, die Neuwahl der Hochschullehrer auf der Grundlage des Wettbewerbs alle fünf Jahre. Die Demokratisierung bedeutet auch eine Erweiterung der Möglichkeiten für die Arbeit von Studenten in den wissenschaftlichen Räten, den führenden Leitungsorganen, was ihnen ermöglicht, die Lösung von Studienfragen zu beeinflussen und an der Wahl der Leitung teilzunehmen. So wurde zum Beispiel im Rat der Ersten Moskauer Medizinischen Hochschule, einer der größten im Lande, mit Unterstützung der Studenten–“Fraktion“ der jüngste Bewerber zum neuen Rektor gewählt. Ich glaube, daß der Einfluß der Studenten schnell wachsen wird. Noch vor einem Jahr, als ich mich mit Studenten traf und wir Fragen ihrer Mitbestimmung an den Hochschulen erörterten, schwiegen viele. Jene aber, die zu Worte kamen, beschränkten sich oft auf die gewohnten Bitten, neue Instruktionen auszuarbeiten. Heute hat sich der Charakter der Vorschläge stark verändert. Auf dem jüngsten Treffen mit Studenten–Mitgliedern der wissenschaftlichen Räte der Moskauer Hochschulen sah ich ganz andere Menschen - kluge, kühne, an Veränderungen Interessierte -, die sachliche, argumentierte Vorschläge unterbreiteten. Auch in der BRD gab es Ende der sechziger Jahre heftige Auseinandersetzungen um die Schul– und Universitätsreform. Dabei zeigte sich, daß die angestrebte Demokratisierung, die Mitbestimmung von Assistenten und Studenten in der Universität und die der Eltern und Schüler an den Schulen und Gymnasien nur im geringen Maße verwirklicht werden konnten. Die Widerstände der Professoren, der Bürokraten und der wirtschaftlichen Interessen waren zu groß. Worin sehen Sie in der Sowjetunion die Schwierigkeiten bei der Verwirklichung Ihrer Reformziele? Uns sind solche Schwierigkeiten ebenfalls bekannt. Nicht alle Hochschullehrer erweisen sich als vorbereitet auf die Demokratisierung des Lebens der Hochschule und auch auf andere Veränderungen. Einige leisten schweigend Widerstand, andere schreiben an die Zeitungsredaktionen und machen mir dabei Vorwürfe, daß es unmoralisch sei, dem Studenten das Recht einzuräumen, die Tätigkeit des Lehrers zu erörtern. Nach Angaben unserer im Dezember 1987 durchgeführten Umfrage sprachen sich 25 Prozent der Lehrer gegen die Mitwirkung von Studenten in den wissenschaftlichen Räten aus. Ich meine, daß eine solche Ablehnung noch vor zwei oder drei Jahren für dieses Vorhaben verhängnisvoll gewesen wäre. Heute werden wir aber, da bin ich sicher, unter Berücksichtigung der allgemeinen Situation im Lande, diesen inneren Widerstand gegen die Veränderungen in der Hochschule überwinden. Ich bin davon überzeugt, weil wir uns bei unserer Arbeit auf die Studentenschaft, auf das Ansehen sowie das gewal tige intellektuelle und kulturelle Potential des besten und größten Teils der Lehrer und Wissenschaftler stützen. Bei uns hätte der Geschichtsunterricht viel mehr die jüngste Geschichte berücksichtigen müssen. Der Nationalsozialismus und seine Verbrechen werden immer noch nicht gebührend im Unterricht behandelt. In der Sowjetunion gibt es auch eine Geschichtsdebatte. Manche bemängeln, daß die Schulbücher nicht dem Gang der wirklichen Geschichte gerecht werden. Werden die neuen Impulse (Rolle Stalins, Rehabilitierung von Bucharin etc.) auch in den Schulen und Universitäten ihren Niederschlag finden? Wenn ja, wie sehen Ihre Pläne für diese Veränderungen aus? Bei uns wird jetzt die Geschichte intensiv studiert. Mächtige Impulse dafür gab der 27.Parteitag der KPdSU 1986. Aktuelle methodologische Probleme der Geschichte des sozialistischen Aufbaus im Lande wurden im Referat von Michail Gorbatschow anläßlich des 70.Jahrestages der Oktoberrevolution aufgezeigt. Das Referat wies den Weg zur ganzen Wahrheit Was ist die GANZE Wahrheit? Kann es sie überhaupt geben? d. S–in, zur Beseitigung der „weißen Flecken“ der Vergangenheit. Die Dialektik der historischen Entwicklung wird tiefergreifend erfaßt. Erörtert werden nicht nur unsere Erfolge, sondern auch Mängel. Natürlich wird all das inden Hoch– und Oberschullehrbüchern sowie in den Lehrprogrammen seinen Niederschlag finden. Jetzt werden populäre Studien zur Geschichte der sowjetischen Gesellschaft, Lehrbücher und Lehrhilfen über Gesellschaftswissenschaften zum Druck vorbereitet. Außerdem erscheint im Lande viel geschichtliche Fachliteratur. Sie hat keinen Geheimhaltungscharakter. Wie sehen Ihre Vorstellungen für einen verstärkten wissenschaftlichen Austausch zwischen ihrem Land und der Bundesrepublik aus? Sind schon in den bisherigen Gesprächen auf höchster Ebene die Probleme des Wissenschaftler–, Studenten– und Schüleraustausches angesprochen worden? Unsere Kontakte mit der Bundesrepublik auf dem Gebiet des Bildungswesens entwickeln sich stabil. Wir möchten den traditionellen Austausch von Lehrern, jungen Wissenschaftlern und Studenten erweitern. Unserem bundesdeutschen Partner - dem „Deutschen Akademischen Austauschdienst“ - gelingt es leider vorläufig noch nicht, einen Teil der freien Stellen an den sowjetischen Hochschulen, die für Wissenschaftler aus der Bundesrepublik reserviert worden sind, zu besetzen. Das Niveau der Kontakte zwischen den Hochschulen der UdSSR und der Bundesrepublik ermöglicht es, operativ Arbeitskontakte zwischen interessierten Gruppen von Wissenschaftlern unserer Länder herzustellen, gemeinsame Forschungen über Probleme durchzuführen, die beide Seiten interessieren. Unsere Aufgabe sehen wir darin, potentiellen Partnern praktische Hilfe bei der Herstellung neuer Verbindungen zwischen Hochschulen zu erweisen. Wir hoffen, daß in nächster Zeit mehrere gemeinsame Betriebe auf der Basis der wissenschaftlich– technischen Zusammenarbeit mit Universitäten und Firmen einiger Länder gegründet werden. Was unsere Kontakte mit West–Berlin anbelangt, so werden sie vorläufig noch im Rahmen von drei Abkommen zwischen Hochschulen verwirklicht. Intensiv entwickeln sich zum Beispiel die Kontakte zwischen der Moskauer Hochschule, die Bauingenieure ausbildet, und der technischen Universität von West–Berlin. Ich glaube, daß es mehr solche Kontakte geben wird. Wir sind an Geschäftskontakten mit jenen Organisationen der Stadt interessiert, die die Entwicklung neuer Formen der Zusammenarbeit auf sich nehmen, und den Kreis unserer Partner erweitern würden. Die internationale Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Studenten ist unter den gegenwärtigen Bedingungen notwendig, um die humansten Ziele von allgemein menschlicher Bedeutung zu erreichen. Ohne sie ist es unmöglich, solche globalen Probleme wie der Aufbau einer Zivilisation, frei von Kernwaffen, der Umweltschutz, der Gesundheitsschutz etc. zu lösen. Wir meinen, daß man kühner von der Konfrontation zur vielseitigen Zusammenarbeit übergehen muß. Die sowjetische Hochschule ist dazu bereit. Interview: Erich Rathfelder

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