Pariser „Goldtropfen“ unterm Schatten Le Pens

■ Ein Gang durchs Ausländerviertel der französischen Hauptstadt / Immigranten sind schweigsam und bedrückt / Le Pen verzeichnete hier den höchsten Stimmenanteil / Intellektuelle sprechen von Hitler und der Weimarer Republik

Aus Paris Georg Blume

Zwischen schwarzafrikanischen Stoffläden, französischen Fischständen und algerischen Bäckereien drängt sich auf dem Dejean– Marktplatz im achtzehnten Pariser Stadtbezirk jeden Tag die gleiche buntgemischte Menschenmenge. Den „Goldtropfen“ nannte die Stadt einst liebevoll das Ausländerviertel am Fuße von Montmartre. Doch Farbenpracht und Lebhaftigkeit des Marktgeschehens am Tage verblenden den Blick auf die städtische Realität. Erst abends, wenn nicht mehr Mangos und Makrelen die Bürgersteige zieren, wird hier der rasante politische Pulsschlag der Stadt spürbar. Am vergangenen Sonntag stimmten 18 Prozent der Wähler des achtzehnten Pariser Bezirks für Le Pen. Das war sein höchster Anteil in der Hauptstadt. Nach acht Uhr gehört das Viertel den Immigranten. Ich stelle Fragen nach dem rechtsradikalen Schlaganfall Frankreichs. Aber zunächst bleiben die Antworten karg. Jemand murmelt, er schäme sich für Frankreich. Zwei algerische Rentner beteuern, nichts von der französischen Politik zu verstehen. Alle gehen schnell ihres Weges. Statt dessen tritt ein Spanier auf mich zu, erzählt, daß er vor Franco in den vierziger Jahren geflohen sei, nun aber auf der Seite der Franzosen und Le Pens stehe: „Die Leute, die sechs Monate arbeiten und dann Arbeitslosengeld kassieren, gehören alle ins Meer.“ „Meistens reden wir nicht viel darüber“, erklärt Yussuf, ein Algerier. „Aber die Angst ist da, du wirst sie spüren.“ Erst am Nach mittag hatte Le Monde einen Leitartikel des jüdischen Rechtsanwalts Georges Kiejman veröffentlich. „Über vier Millionen Franzosen (die Le Pen wählten, G.B.) können nicht Faschisten sein?“ fragt Kiejman und antwortet: „Wahrscheinlich. Aber waren nicht die elf Millionen Deutschen, die am 13.März 1932 Adolf Hitler ihre Stimme gaben, zu diesem Zeitpunkt genausowenig Nazis?“ In den Hauptquartieren der Pariser Antirassismus–Organisationen herrscht reges Treiben. Fieberhaft arbeitet man bei „SOS–Racisme“ und MRAP (“Bewegung gegen den Rassismus und für die Völkerfreundschaft) an der Vorbereitung einer gemeinsamen Demonstration gegen Le Pen am 1.Mai. Der Generalsekretär der MRAP, Albert Levy: „Die Politiker begnügen sich heute damit, Le Pen als das Böse darzustellen. Die „republikanische Sammlungsbewegung“, die Mitterrand vorschlägt, ist nur eine moralische Antwort. Die französische Gesellschaft aber ist tiefgreifend rassistisch vergiftet.“ Albert Levy, der als Jude in der Resistance kämpfte, weiß keinen anderen Vergleich mehr: „Die verbale Gewalt Le Pens, die gelegentliche physische Gewalt in der Gesell schaft und die Einstellung der Politiker, in Le Pen einen der ihren zu sehen, mit dem man sich verbünden kann, all das läßt mich an Hitler denken.“ Die Dramatik dieser Stellungnahmen diktiert die Fragen an die Immigranten. Die Schweigsamkeit der Frauen und Männer an den Bars und auf den Straßen ist überaus bedrückend. Sprechen sie jedoch vom Eindruck, den Le Pens Wahlerfolg auf sie gemacht hat, ist das Resümee keineswegs leichter zu ertragen. „Ich schätze Herrn Le Pen so wie jeden Franzosen, aber ich bin gegen seine Politik, die Ausländer fortzujagen,“ sagt ein 56jähriger Portugiese sehr bedächtig. „Ich verstehe das nicht. Kann Le Pen denn gewinnen?“ fragt Joel aus Zentralafrika. „Du mußt dich informieren. Das ist sehr wichtig. Sonst werdet ihr morgen alle ausgewiesen“, entgegnet ihm eine ältere Algerierin. Und dann erzählt sie die Geschichte von den 101 Maliern, die schon Chirac an Ketten gelegt in ihr Heimatland zurückverfrachtete. Von Hitler ist wieder die Rede, aber auch von der französischen Republik, in der man so gut leben konnte. „Euch werden wir auch noch kriegen,“ gellt es zwischendurch von der anderen Straßenseite. Eine französische Rentnerin führt ihren Hund spazieren. „Wir haben Mitterrand gewählt, weil wir sonst Bürgerkrieg hätten“, beteuert Anil aus Martinique nachdem die alte Frau verschwunden ist. „Seit 15 Jahren lebe ich hier, meine Kinder gehen hier zur Schule und werden französisch erzogen. In Martinique würden sie englisch erzogen. Dahin können wir nicht zurück.“ „Wenn Le Pen seine Politik durchsetzen kann, dann muß ich zurück“, fügt ein Algerier hinzu. „Le Pen ist ein Demagoge, der die Ausländer zum Sündenbock macht. Doch er vergißt, daß Frankreich ohne den Reichtum aus den Kolonien, ohne das, was die Ausländer Frankreich gebracht haben, eine Wüste wäre. Zuzu, eine Enddreißigerin von den Komoren, sieht dennoch einen beruhigenden, versöhnlichen Aspekt: „Die Jugend hat Mitterrand und nicht Le Pen gewählt. Vielleicht ist das der Weg in die Zukunft.“