Palastrevolte bei den Gaullisten

■ Spaltung der rechtsliberalen UDF in Sicht: Ex–Minister rufen zur Wahl Mitterrands auf / Kein Platz für eine starke Rechte zwischen Le Pen und Mitterrand? / Chiracs Rennen um die Vorherrschaft scheint gelaufen / Innenminister Pasqua kündigte gaullistischen Konsens

Aus Paris Georg Blume

In den Lagern der französischen Bürgerlichen herrscht Alarmzustand. Beide großen französischen Rechtsparteien, gaullistische RPR und rechtsliberale UDF, stehen nach dem zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag vor einer unmittelbaren Zerreißprobe. Das Knacken im bürgerlichen Gebälk war am Wochenende nicht mehr überhörbar. Sowohl die taktische Wahlaussage von Jean–Marie Le Pen, der in Mitterrand heute „das Schlimmste“ und in Chirac „das Schlechte“ sieht, als auch die Festellung von Innenminister Pasqua, daß Bürgerliche und Rechtsradikale „sich im wesentlichen zu den gleichen Werten bekennen, haben die Risse drastisch offengelegt, die RPR und UDF zu zerbersten drohen. Der Angriff Pasquas trägt die Züge einer gaullistischen Palastrevolution. Der Innenminister war jahrelang Chiracs stabilstes innenpolitisches Standbein. Der ehemalige Resistancekämpfer verkörperte in seiner Person die autoritär–bonapartistische Tradition des französischen Gaullismus. Mit seinem nunmehr offenen Versuch, rechtsradikale Elemente in die RPR–Politik einzuführen, kündigt Pasqua mit der bisherigen Machtstrategie Chiracs auf. In der Tat scheint Chiracs Rennen um die Vorherrschaft in einem großen bürgerlich–liberalen Lager heute verloren. Während Pasqua, der die „Verbürgerlichung“ seiner Partei kritisiert und dabei auf die Gefolgschaft eines Großteils der Gaullisten hoffen kann, zurück zum populistischen Gaullismus steuert, setzt der neben ihm einflußreichste Berater Chiracs, Wirtschafts– und Finanzminister Edouard Balladur, auf die Gründung einer rechten Einheitspartei mit den Regierungspartnern von der UDF. Hinter Balladur stehen die profilierten Jungpolitiker der RPR wie Gesundheitsministerin Michele Barzac, Umweltminister Alain Carignon und nicht zuletzt Außenhandelsminister Michel Noir, der Pasqua noch am Sonntag entgegnete: „Wir haben mit der Philosophie und den Thesen, die von den Führern der Front National verteidigt werden, nichts gemeinsam.“ Am 9.Mai steht Chirac vor einer derzeit unlösbaren Problemstellung: Wie kann er die Ultra– Rechten zurückgewinnen ohne mit dem Zentrum zu brechen? Die Frage stellt sich für Chirac nicht nur innerparteilich, sondern auch im Verhältnis zu UDF und Front National. Bereits vier ehemalige UDF–Minister haben letzte Woche zur Wahl Mitterrands aufgerufen. Unabhängige Abgeordnete aus den Reihen der Bürgerlichen sind gefolgt. Simone Weil, moralische Gallionsfigur der UDF, hat hinter verschlossenen Türen aus ihrer Sympathie für das sozialistische Angebot einer „republikanischen Sammlungsbewegung“, die liberale Zentrumspolitiker einschließen soll, keinen Hehl gemacht. Barre selbst rechnete nach den Wahlen mit treulosen Parteifreunden und den Gaullisten ab, erkannte aber in Mitterrand einen „Mann von Statur“. Der Barre– Anhänger Lionel Stoleru sagt, er werde Chirac wählen, doch am 9.Mai sei er ein freier Mann. Dann, so analysiert er, wäre die UDF eine tote Partei. Der UDF, die unter Giscard als Zweckbündnis rechter Splitterparteien gegründet wurde und in der Tradition der aristrokratischen Honorationsparteien des 19. Jahrhundert steht, deren Politiker große Namen, aber keine feste Wählerschaft tragen, geht heute ihr einziger Zusammenhalt, die Regierungsperspektive, verloren. Immer leiteten Präsidentschaftswahlen tiefe Umwälzungen in den Kräfteverhältnissen des Landes ein. 1969 führte die Niederlage der Linken zur späteren Linksunion von Kommunisten und Sozialisten, 1974 verabschiedete Giscard die Gaullisten, für immer, wie sich heute zeigt. 1981 schließlich läutete den Untergang der Kommunistischen Partei ein. Heute implodiert die gesamte bürgerliche Rechte. Ihr Zersetzungsprozeß hat eingesetzt. Zwischen Mitterrand und Le Pen wird der Spielraum knapp.