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„Wir hoffen, die Regierung tut das Ihre“

■ Resignation und Trauer beherrschten das Ende der Besetzung der Lenin–Werft in Gdansk, auch wenn die Streikenden sich nominell nicht auf ein Abkommen mit der Regierung einließen / Von Anfang an ein merkwürdiger Streik / Die Gewerkschaft war noch nicht bereit

Aus Gdansk K. Bachmann

Am Dienstag abend exakt um acht Uhr öffnete sich langsam das große Haupttor der Lenin–Werft. Die Polizei hatte sich weitgehend zurückgezogen, der weite Platz mit dem Denkmal für die 1970 erschossenen Werftarbeiter war nahezu leer. Die Streikenden der Lenin–Werft, die bis dahin über eine Woche ausgehalten hatten, formierten sich zu einem Zug. Langsam, ein großes Holzkreuz vor sich hertragend, singend. Angeführt von Lech Walesa und den Vermittlern des Episkopats setzte sich der Zug langsam in Richtung Brigittenkirche in Bewegung. Während er sich durch die Gdansker Innenstadt bewegte, wurde er von gelegentlichem Beifall von Passanten und Solidarnosc–Rufen der Anwohner begleitet. Der neuntägige Streik auf der Gdansker Leninwerft war zuende. Von Anfang an war es ein merkwürdiger, ungewöhnlich schlecht vorbereiteter und durchgeführter Streik gewesen. Die Gruppe junger Arbeiter, die am Montag morgen vor einer Woche mit Transparenten von Abteilung zu Abteilung zog und den Streik ausrief, erklärte erst am Nachmittag den Okkupationsstreik, als bereits 2.000 Arbeiter der vorhergehenden Schicht das Werftgelände verlassen hatten. Als der Streik dann langsam in Gang kam, verzichtete das Streikkomitee auf die Besetzung des Direktionsgebäudes, die Übernahme von Radiostation und Druckerei und eine vollständige Überwachung des Werftgeländes. Die Folgen erwiesen sich als fatal. Die Radiostation überließ man der Direktion, die damit die Streikenden mit ihren Ultimaten und Drohungen unter Druck setzen konnte. Das Direktionsgebäude mit seinem Nebenausgang zur Stadt verwandelte sich in den Stützpunkt jener fünften Kolonne von Werkschutz und Sicherheitsdienst, die die Streikenden nachts durch Provokationen einem pausenlosen Nervenkrieg aussetzte. Da das Werftgelände von Streikposten nicht vollständig überwacht wurde, konnten ganze Trupps von Provokateuren die Mauern überklettern. Im Laufe des Streiks wurde sogar vorgeschlagen, auf die Bewachung der Tore ganz zu verzichten und nur das Haupttor zu besetzen. Gegen Ende des Streiks wurde das dann mehr oder weniger Wirklichkeit, weil die Zahl der Besetzer immer weiter zusammenschmolz. Von Anfang an entwaffneten sich die Streikenden selbst. Ein Grund für die Naivität, mit der die Streikenden zu Werke gingen, ist sicher darin zu sehen, daß die Gewerkschaft unvorbereitet war. Im Laufe des Streiks erklärte Lech Walesa einmal, die Gewerkschaft habe Protestmaßnahmen größeren Ausmaßes erst für den Spätsommer geplant gehabt. Sein Szenario sah zuerst Streiks in kleineren Betrieben vor, die sich dann erst gegen Ende auf die Hütten und Werften ausbreiten sollten. Es kam jedoch umgekehrt. Und als dann Nowa Huta und die Lenin– Werft in Streik traten, schloß sich kein einziger größerer Betrieb dem Ausstand an. Selbst innerhalb der Werft war die Belegschaft geteilt. Unter den Streikenden befand sich kaum einer über 35 Jahre, im Streikkomitee war nur Szablewski älter als 45 Jahre. Während die Streikenden in der Werft in Dreck und teilweise regelrechter Verzweiflung ausharrten, holten sich die älteren Belegschaftsmitglieder, die die Werft verlassen hatten, ihre von der Direktion angekündigte Lohnauszahlung und ließen sich dabei vom Fernsehen filmen. In der Werft wurde am Dienstag abend heftig diskutiert, es war eine regelrechte Zerreißprobe. Um 18 Uhr trat der Vorsitzende des Streikkomitees ans Mikrophon und verkündete die Entscheidung des Komitees: „Wir haben nichts unterschrieben. Für die Regierung ist das eine Ohrfeige... Sie sind nicht auf dem Niveau, daß man mit ihnen verhandeln könnte.“ Ein Arbeiter: „ Wir haben auf diesen Frühling sieben Jahre gewartet. Am Anfang hat es geheißen, entweder wir siegen oder sie tragen uns hier raus. Und jetzt? Nach dem, was hier geschehen ist, traut uns doch in ganz Gdansk keiner mehr was zu.“ Für die jungen Radikalen, die noch nie von Zomo Kommandos verprügelt, noch nie herausgetragen wurden, bricht eine Welt zusammen. „Das ist doch Betrug“, weinen manche. Anwalt Nowicki verteidigt die Entscheidung: „Das ist eine Art Übereinkommen, wenn auch nicht unterschrieben. Wir tun das Unsere und hoffen, die Regierung tut das Ihre.“ Mehr als Hoffnung bleibt da nicht. Als das große Tor aufgeht und die Plakate und Fahnen eingeholt werden, läuten in der Brigittenkirche die Glocken. Die meisten Arbeiter haben Tränen in den Augen.

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