: Eine zweite Verbeugung vor Mitterrand
■ Am Sonntag wählen die Franzosen im ersten Wahlgang ihr Parlament / Nach der Präsidentschaftswahl wird damit nur eine demokratische Formalität erfüllt / Den Kandidaten ist Tor und Tür für ihre Arroganz
Eine zweite Verbeugung vor Mitterrand
Am Sonntag wählen die Franzosen im ersten Wahlgang ihr
Parlament / Nach der Präsidentschaftswahl wird damit nur
eine demokratische Formalität erfüllt / Den Kandidaten ist Tor und Tür für ihre Arroganz und Machtgelüste geöffnet
Aus Montpellier Georg Blume
Da sitzt er - groß, fett und verschwitzt im Lederknautsch seiner Staatskarrosse: der sozialistische Bürgermeister und zukünftige Abgeordnete von Montpellier, Georges Freche. Erst sabbert er drei deutsche Begrüßungswörter, dann protzt es schon heraus: „Wir sammeln das Volk für Europa und die Republik. Der Konsens umfaßt 70 Prozent der Wähler. Und 80 Prozent der Unternehmer stehen hinter mir.“ Keine sechs Wochen ist es her, daß 27 Prozent aller französischen Unternehmer Le Pen wählten - auch und gerade in Montpellier, wo der Stimmenanteil der Rechtsradikalen bei 21 Prozent lag. Doch wen soll das heute noch interessieren?
Schon jubelt die Pariser Tageszeitung 'Liberation‘: „Die Front Kopf unten!“ Mit landesweit weniger als 10 Prozent der Stimmen, wie es die Umfragen vorraussagen, wäre die „Front National“ von Jean-Marie Le Pen, so meinen die Kommentatoren, der große Wahlverlierer an diesem Wochenende. In Vergessenheit geraten ist bereits, daß das, was man Le Pen heute als Niederlage bescheinigt, noch vor kurzer Zeit als achtbarer Erfolg gegolten hätte. Unerwähnt, weil verfassungskritisch, bleibt denn auch, daß die französischen Parlamentswahlen, die an diesem und kommenden Sonntag in zwei Wahlgängen gehalten werden, wohl am wenigsten geeignet sind, die politischen Kräfteverhältnisse im Land zu messen.
Nach der Präsidentschaftswahl bleibt den Franzosen heute nichts anderes, als eine demokratische Formalität zu erfüllen. Die gaullistische Verfassung, die dem Präsidenten das Mittel der Parlamentsauflösung in die Hand gab, degradierte die Bestimmung der Legislativen durch den Wähler im direkten Anschluß an die Präsidentschaftswahl zwangsläufig zu einer Art parlamentarischer Pauschal -Bewilligung der Exekutiven, dsa heißt, des gewählten Präsidenten. Gerade deshalb aber wird der absehbar überwältigende Wahlsieg der Sozialisten kaum Aufschluß über das reale politische Gewicht der Partei geben, deren Ansehen nicht mit dem Mitterrands zu verwechseln ist.
Seines Sieges sicher sorgte sich der neue Premierminister Michel Rocard, der sich weder vom Parlament noch von seinen Wählern unter Druck setzen lassen will, ob das Vertrauen der Franzosen in die Regierung nicht ein wenig übertrieben sei. Fast ein Aufruf, nicht sozialistisch zu wählen, zumindest aber eine Warnung vor Überheblichkeit.
So wenig Rocard den sozialistischen Wahlsieg ernst nehmen wird, so wenig ist das Wahlergebnis der Front National ernstzunehmen, die durch das Wahlrecht (s. Kasten) in besonderem Maße benachteiligt ist. Die Bedeutung der Wahl liegt anderswo: Dort, wo sich im Schatten des Pariser Regierungswechsel, wenn auch lokal begrenzt, politische Bündnisse formieren, die schon bei den Kommunalwahlen im nächsten Frühjahr Machtstellungen erobern können.
In Nasbinal, einem kleinen Bergdorf auf den südlichen Höhen des Zentralmassivs führt der vielleicht bedeutendste bürgerliche Protagonist eines Bündnisses mit der Front National einen ehrlichen Wahlkampf. Jacques Blanc, einst Minister unter Giscard, war in Frankreich der erste, der im Regionalrat des Languedoc-Roussillon ein schriftliches Einvernehmen mit den Rechtsradikalen traf und seitdem den Vorsitz des französischen Mittelmeer-Parlaments innehält. Ungestört verfolgt Blanc im französischen Süden seine politische Strategie: „Die Front National ist bei mir besser aufgehoben als anderswo. Statt ihre Leute zu blockieren, ziehe ich sie in Verantwortung. In der systematischen Opposition würde sich die Front National nur noch mehr Glaubwürdigkeit verschaffen.“
Blancs Ansichten, obwohl in Paris nicht salonfähig, stoßen in den bürgerlichen Reihen zwischen Nimes und Perpignan kaum mehr auf Widerspruch. Zeigt nicht die politische Praxis, daß sich Blanc im Amt halten kann, während die Abgeordneten, für die die Zeit zu einem Bündnis mit den Rechtsradikalen nicht mehr gereicht hat, am Sonntag zum großen Teil ihren sozialistischen Gegnern unterliegen werden? „Ich respektiere die Leute von der Front National. Das reicht aus, damit sie mich unterstützen,“ versichert Jacques Blanc seinen Kollegen.
Die Parlamentswahlen, kurzfristig programmiert, haben es den Parteien nicht erlaubt, politische Schlußfolgerungen aus dem Ergebnis der Präsidentschaftswahlen zu ziehen. Auf nationaler Ebene glich der Wahlkampf der Verlängerungsphase eines Spiels, das schon entschieden war. Politische Umgestaltung, Personalkritik und Strategiewechsel stehen erst nach der Verlängerung auf der Tagesordnung, wenn schon die Politiker hinter den Kulissen nichts anderes mehr beschäftigt.
„Laßt uns mindestens ebenso intelligent wie Mitterrand sein!“ fordert Jacques Blanc. „So wie er sich mit der Linksunion der Kommunisten entledigt hat, können wir uns der Front National entledigen.“ Von der sozialistischen Öffnung zur Mitte bis zum Rechtsbündnis mit Le Pen stehen die politischen Türen in Frankreich noch offen. Königvassalen und Bürgerknechte werden sie bewegen, nur die Wähler nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen