piwik no script img

Die Arbeiter müssen das Gewicht der Krise tragen

■ Comandante Victor Tirado, innerhalb des sandinistischen Nationaldirektoriums für die Massenorganisationen zuständig, zur Streikbewegung der Bauarbeiter und zur Rolle der Gewerkschaften in d

Die Arbeiter müssen das Gewicht der Krise tragen

Comandante Victor Tirado, innerhalb des sandinistischen

Nationaldirektoriums für die Massenorganisationen zuständig, zur Streikbewegung der Bauarbeiter und zur Rolle der

Gewerkschaften in der Revolution.

Frage: Wie kann man die gegenwärtige Situation der Arbeiterbewegung in Nicaragua charakterisieren?

Victor Tirado: Das erste Merkmal ist, daß ihr antiimperialistisches Wesen sich vertieft hat. Die Arbeiterbewegung begann ohne viel Erfahrung. Als die Revolution siegte, begann sie sich um das sandinistische Projekt zu organisieren und Erfahrung zu sammeln, integrale Erfahrungen: Es handelte sich nicht mehr um einfache wirtschaftliche Forderungen, sondern um den Sieg der Revolution und deren Konsolidierung.

Haben nicht die sozialistische CGT-i und die kommunistische CAUS auch klare antiimperialistische Positionen vertreten?

Doch, aber deren Antiimperialismus war eher theoretisch, eine Angelegenheit von Parolen. Heute kämpfen sie wie zu Zeiten Somozas um ihre wirtschaftlichen Forderungen. Aus Dogmatismus oder politischen Interessen gelingt es ihnen nicht, sich dem Projekt der Revolution anzuschließen. Dieses Erbe der ideologischen Rückständigkeit ist der Grund, warum sie die Revolution angreifen. Sie kämpfen wie in der Vergangenheit: früher gegen Somoza und jetzt gegen den Sandinismus.

Der Streik ist also eine Kampfform, die sich überlebt hat?

Der Streik als Kampfmittel kann in einem bestimmten historischen Moment richtig sein und in einem anderen nicht. Das hängt von den Umständen ab.

Das Streikrecht ist real. Die Verfassung erlaubt den Streik. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt brauchen wir ein anderes ideologisches Niveau, um zu verstehen, warum wir nicht streiken werden. Wir lehnen den Streik nicht juristisch ab, sondern ideologisch. Diese Arbeiter, die in Streik getreten sind, verstehen das nicht. Sie behaupten, daß sie nicht zum neuen Normenkatalog für Bauarbeiter befragt wurden. Das kann schon sein. Na und? Das Wesen der Revolution ist gegenwärtig ein Ja zur Arbeit. Arbeit zur Erhaltung der Revolution, die letzten Endes das Projekt der Arbeiter ist. Ihr Vorwand ist, daß die Normen angehoben und die Arbeitszeit verlängert wurden und daß der Lohn niedrig ist. Das stimmt alles. Das ist eben der Preis, den die gesamte Arbeiterbewegung zahlen muß. Will sie vielleicht, daß alles wie das Manna vom Himmel fällt? Wenn die Arbeiterbewegung ihre Rolle als Avantgarde der Revolution nicht erfüllen kann, dann muß innerhalb der Gesellschaft eine andere Avantgarde entstehen.

Man sagt, bisher haben die Arbeiter das ganze Gewicht der Wirtschaftskrise tragen müssen, während die Produzenten verwöhnt werden. Manche meinen, man sollte die Lasten umverteilen.

Welche Gedanken verbergen sich hinter diesem Vorschlag? Soll man die Bourgeoisie angreifen, die Anreize in Devisen ausgezahlt bekommt? Soll man alles sozialisieren? Die Arbeiter müssen die Allianzen und das Projekt der Nationalen Einheit verstehen. Man muß sich auch über das strategische Projekt der Mischwirtschaft im klaren sein.

Die Arbeiter müssen diese Lasten tragen, denn es ist ihre Revolution. Wir können nicht von der Bourgeoisie erwarten, daß sie die Lasten dieses Projektes trägt. Wenn die Arbeiterklasse die volle Verantwortung übernimmt, hat sie auch die moralische Autorität, jederzeit die wirtschaftliche Aktivität des Landes zu beanspruchen, um in den verschiedenen Etappen der Entwicklung der Revolution voranzuschreiten.

Welche Funktion hat dann eine Gewerkschaft in einem Betrieb?

Wir haben diese Etappe als wirtschaftliches Überleben definiert. Da gibt es keine großen Überschüsse. Die Akkumulation reicht bestenfalls aus, die Verteidigung und die Revolution zu erhalten - das ist das wirklich Wichtige. Die Gewerkschaften müssen dahinter sein, daß das technische Niveau der Produktion nicht fällt. Denn neue technische Niveaus sind derzeit nicht denkbar. Eine andere Aufgabe ist die Eingliederung in Wirtschaftsbrigaden (die nach Feierabend und am Wochenende unbezahlte Mehrarbeit leisten).

Sind die Wirtschaftsbrigaden nicht reine Ausführungsorgane, die nichts mit Mitbestimmung zu tun haben?

Nein. Sie diskutieren und entscheiden auch untereinander. Da wird z.B. diskutiert, wie man am besten die 20 Kollegen ersetzen kann, die gerade zum Wehrdienst eingezogen wurden und zwei Jahre fehlen werden. Da kommt es darauf an, die bewußtesten Leute auszusuchen. Als Arbeiter mußt du überlegen, wie du den Plan übererfüllen kannst und dabei sogar noch weniger verdienst. Das ist eine Bewußtseinsfrage. Als Mitglied einer Wirtschaftsbrigade hast du gegenüber den Kollegen enormes moralisches Gewicht. Die Wirtschaftsbrigaden in der Überlebenswirtschaft haben gezeigt, daß man die Produktion aufrechterhalten und einige Ziele erreichen kann, auch wenn man weniger Leute und Ressourcen zur Verfügung hat.

Gekürzt übernommen aus dem sandinistischen Parteiorgan 'Barricada'

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen