"Es fehlt das Gespür für die eigentlich wesentlichen Dinge"

■ Der Schriftsteller Carl Amery zur Krise der Grünen / Die Vereinheitlichung der Programmatik ist nicht ernsthaft versucht worden

I N T E R V I E W „Es fehlt das Gespür für die eigentlich wesentlichen Dinge“ Der Schriftsteller Carl Amery zur Krise der Grünen / Die

Vereinheitlichung der Programmatik ist nicht ernsthaft

versucht worden

taz: Sind die Grünen dabei, eine historische Chance zu verspielen?

Amery: Ich hoffe ja immer noch, daß sich die Grünen wieder fangen. Die aktuelle Krise ist in der Gründungsphase angelegt. Die Gründung der Grünen war ja das Resultat von zwei Kräften: Da waren einmal die Gegenkulturen, die sich seit 68 im öffentlichen Raum gebildet hatten, als Ausdruck der jahrzehntelang verzögerten Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft. Gleichzeitig hat sich die allmählich unabweisbar werdende Sorge um die Bewohnbarkeit des Planeten politisch in irgendeiner Weise zu konsolidieren versucht. Das ist aufeinander zugekommen. So entstand für die Grünen der starke Anfangsschub. Diese Strömungen sahen die Möglichkeit, sich unter einem moralisch unzweifelhaften Banner zu versammeln. Die Gründung wurde forciert durch die Initiative von Herbert Gruhl. Die Spontis und Bürgerinitiativen waren genötigt, schneller als geplant nachzuziehen. Auf diese Weise ist eben vieles nicht integriert worden. Vielleicht sind wir zu hastig vorgegangen.

Wenn die Krise in dieser Heterogenität angelegt ist, muß die Partei dann nicht zwangsläufig wieder auseinanderstreben?

Ich glaube nicht, daß das unausweichlich ist. Vielleicht ist das ja eine Marotte von mir, aber ich denke: Die Informationsstränge, die von einer wirklich ökologischen Perspektive ausgingen, wären sehr gut geeignet gewesen, das Programm in die Zukunft hinein stärker zu konsolidieren, als das der Fall war.

Eine Zeitlang hat der Flügelstreit die Grünen durchaus interessant gemacht. Warum ist er auf einmal unproduktiv geworden?

Die Vereinheitlichung der Programmatik ist niemals ernsthaft versucht worden. Dieser Wille war am Anfang da, ist aber offenkundig nicht energisch genug gewesen. Ich hätte mir einen Prozeß gewünscht, wo die verschiedenen Traditionen ihre „Mitbringsel“ wirklich „objektiv“ vergleichen und Paradigmen entwickeln, z.B. für eine ökologische Steuerpolitik oder für eine ökologische Kulturpolitik. Auf diese Lernfähigkeit haben wir damals gesetzt. Statt dessen begann die Beliebigkeit zu regieren. Die meisten Fragen kreisen ja gar nicht um die eigentlich wesentliche ökologische Fragestellung. Die Grünen müssen ja Interessen vertreten, die nur auf eine indirekte Weise menschlich sind, die Interessen der Biosphäre. Das muß in Parteipolitik übersetzt werden, und das ist scheußlich schwierig. Wenn man also z.B. eine ökologische Steuerpolitik betreiben will, muß z.B. das Auto zum Luxusgegenstand werden. Es kann als Volksverkehrsmittel nicht gerettet werden. Darüber zu reden ist sinnlos. Dann tauchen die ordnungspolitischen Probleme auf: Dürfen die Reichen in den Vehikeln noch rumrutschen? Aber in solchen Diskussionen zuckt ja sofort der rohe populistische Nerv der Grünen zusammen.

Das klingt sehr voluntaristisch: Liegt diese Krise wirklich daran, daß sich Funktionäre nicht einigen wollten?

Da muß ich mich korrigieren: Was fehlt, ist nicht so sehr der Wille, sondern einfach das Gespür für das, was wichtig wäre. Daß man sich im eigentlich fundamentalistischen Sinn nicht darüber klar ist, daß der Mensch eben nicht der Mittelpunkt der Welt ist. Und der Flügelstreit ist nie von Lernprozessen begleitet worden. Bei der sogenannten Basis der Grünen hat man ja immer den Eindruck, daß man mißtrauisch betrachtet wird, weil man mehr als 20 Bücher gelesen hat. Gut, der Intellekt ist in unserer linken Diskussion eine Zeitlang übertrieben worden. Aber sämtliche jugendbewegten Formeln und Gefühlchen wieder aufzunehmen, das ist ja wirklich eine Zeitverschwendung.

Einige Realos betreiben eine Konfrontation, die in irgendeiner Form auf Abspaltung zielt. Wie stehen Sie dazu?

Was Spaltung angeht, bin ich sehr mißtrauisch. Das finde ich falsch. Es gibt bereits eine bürgerlich-ökologische Partei, die ÖDP. Mit einer Abspaltung würde es drei Listen geben: eine halbwegs demokratisch-konservative, eine öko -liberaldemokratische, ökolibertäre Reformpartei, und eine eigentlich als USPD firmierbare Linkspartei. Dann sehe ich für das Parteienspektrum sehr schwarz. Genauso tragisch wäre ein Prozeß, wo der eine oder andere Flügel weggeht. Ein Problem der Grünen liegt auch darin, daß sie dem größten Teil der Bevölkerung zur Zeit nichts zu versprechen haben außer dem, was sie der Menschheit zu versprechen haben. Aber dieses allgemeine Versprechen ist, wie man soziologisch weiß, sehr schwer zu mobilisieren. Dennoch muß man die Verstetigung der Betroffenheit irgendwie erreichen. Die Ökobewegungen haben ja viele mobilisiert, und die Bewegung war an diesem außerparlamentarischen Kampf das wichtigste. Es genügt nicht, um auf die Dauer eine registrierbare Politik zu machen. In der BRD gehört der parlamentarische Einsatz dazu, und das sollte niemand leichtfertig verspielen.

Können Sie ein paar konkrete Ratschläge geben?

Eine Schwäche der Grünen ist ja die unerhörte Knappheit an aktiven Mitgliedern - das müßte verändert werden. Am wichtigsten wäre eine Verstärkung der Lernfähigkeit, bis hinauf zur Wissenschaftlichkeit. Die Grünen müssen Utopien entwerfen: Wie hätte die Stadt von morgen auszusehen? Oder die Landwirtschaft der Zukunft?

Mit Rücktritten und einer neuen Garde von Sprechern ist, wie die kurze Geschichte der Grünen zeigt, nicht gedient. Ich glaube fast, so paradox das ist, daß ein gegenteiliger Grund vorliegt, nämlich dieses fast athenische Mißtrauen gegen alle Köpfe, die 5 cm höher sind. Deswegen stehen ja plötzlich der Joschka, der Schily oder die Jutta als „Verleiblichung“ von Flügeln da. Vielleicht könnte ein Kodex erstellt werden, nach dem Motto: Das und jenes wird von uns einfach nicht mehr unternommen. Manches kann ja einfach daran liegen, daß die Manieren auf beiden Seiten zu schlecht geworden sind. Wenn man genau hinguckt, dann ist das, worum es geht, oft gar nicht so riesig.Interviewerin: Ursel Sieber