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Betr.: Berlin-Blockade (Brief aus West-Berlin vom 24.9.1948)

Meine liebe Erna!

Vor einigen Tagen habe ich Briefe mit je 20 Mk an Dich abgesandt. Hoffentlich erhältst Du die Briefe. Ich bat Dich u.a. auch um Butter oder Schmalz, evtl. Speck, solltest Du das nicht bekommen, so kaufe bitte dafür Zucker noch und Kakao, an Fett liegt uns allerdings sehr, da wir seit Jahren Mangel daran haben.

Nun will ich Dir nochmals kurz unsere Geldverhältnisse schildern. Wir bekommen 1/4 unseres Gehaltes in Westmark, 3/4 in Ostmark! Westmark gleich Ostmark! In Wirklichkeit gilt die Ostmark aber nur den vierten Teil! Zum Beispiel auf Seifenkarte wird für jeden 1 Kleid aufgerufen. Meine Mutter macht sich nun den Weg von Geschäft zu Geschäft.

Nun zu unseren anderen Verhältnissen:

1. Licht gibt es des Abends im Westsektor nicht, nur tagsüber irgendwann 2 Stunden. Wir sitzen jetzt ab 7 Uhr abends im Dunkeln bzw. gehen zu Bett. Ich schreibe Dir augenblicklich - es ist 8 Uhr abends - bei einer winzigen Ersatz-Kerze (für Westgeld!).

2. Sämtliche Bahnen mit Ausnahme der S-Bahn verkehren abends ab 6 Uhr im West-Sektor nicht mehr!

3. Gas bekommen wir nur stundenweise und nur eine ganz geringe Menge dürfen wir verbrennen!

4. Zu Punkt 1-3: Im Ostsektor gibt es jeden Tag, die ganze Nacht und jeden Abend Licht. Ferner volles Gaskontigent! Die Bahnen (U- und Straßenbahn) verkehren bis in die Nachtstunden hinein.

5. Westsektoren-Einwohner bekommen 1 Pfd. Zucker, 1 Pfd. Nährmittel und 3 Pfd. Kartoffeln weniger als die im Ostsektor wohnende Bevölkerung. Ferner erhalten die im Ostsektor Wohnenden alles für Ostgeld. (1 Ctr. Kartoffeln schwarz gekauft 40,- Mk West oder 160,- Mk Ost.)

6. Kohlen und Holz bekommen wir im Westsektor nicht. Der Ostsektor erhält Kohlen und Holz für den Winter.

Schau, liebe Erna, wir hören hier immer, daß der Westen wenig Geld hat, aber Ihr könnt Euch wenigstens satt essen. Für wen müssen wir hier die großen Opfer bringen? Nur für die anderen Völker? die uns nicht einmal wirklich tatkräftig unterstützen! Oder für Westdeutschland, das unsere Opfer und Abwehr gar nicht zu würdigen weiß? Auf unsere Kosten streiten sich zwei große Völker, fällt Berlin, so flutet der Kommunismus über den ganzen Westen. Wir wissen wohl, wie schwer es für Dich ist, das Besorgen und das Verpacken und zur Post bringen neben Deiner schon reichlichen Arbeit. Wir hoffen aber, daß wir es wieder mal werden gutmachen können an Dir.

Nun sei Du und auch Deine Lieben herzlichst gegrüßt von meiner Mutter, Heini und mir

Deine Lilly

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