HEILIGER STROHSACK

■ Internationale Kunst bei „Zeitlos“ und „Positionen heutiger Kunst“ in Berlin

Sabine Vogel

Und alle, die nicht mehr an den Anschluß der Provinzhauptstadt an die Weltavantgarde geglaubt haben, seufzen vor Entzücken auf: Is det irre. Der Generaldirektor Honisch stellt sechs Stars aus, der Anarchist Szeemann 33, wobei sich drei Namen doppeln. „Positionen heutiger Kunst“ findet in der Nationalgalerie statt. „Zeitlos“ im Hamburger Bahnhof - beides ausgesprochen subjektive Unternehmungen: Eine museale Mutprobe im Mies-van-der-Rohe'schen Glassarg und ein obsessives Museum in einer nostalgischen Stahlkonstruktionshalle. Für die Kunst ein gen Null tendierender Unterschied. In dem Maße, wie sie den Raum zum Thema hat, paßt sie in jeden, existiert für einen kristallinen Moment alleine, verschwindet und führt wieder in den Raum zurück.

Mit dem Griechen Kounellis, dem Koreaner Paik, dem Italiener Merz und den Amerikanern Serra, Stella und Cy Twombly sind sechs „weltberühmte Künstler“ im nationalen Kunstkasten, die schon seit Jahrzehnten als solche ihre Position haben, halten usw. Kounellis montiert „archaische“ Wandreliefs, in denen das ewige Feuer aus dem Campingkocher kommt und der fluxe Paik türmt seine Kunstvideos zu Spielzeugrobotern aus alten Fernsehgeräten auf. Serra zwingt tonnenschwere Eisenplatten mit und ohne „bedrohliche“ Wölbung auf den Teppichboden und Stellas poppige Formen lösen sich von der Wand. Mario Merz baut wieder einen Iglu, zehn Meter im Durchmesser und gläsern, und Twomblys lapidare Kalligrafien bleiben weiterhin unentzifferbar und geheimnisvoll.

So gut, so schön, so langweilig. Überraschend an dieser großkotzigen Heldenfeier ist höchstens, daß die Klassiker im Schneewittchensarg nicht in ihre eigene Aura implodieren.

Nicht grad bescheidener läßt sich der „Olymp der Stille“ bei Szeemann an, wobei wir aufgefordert sind, die Holz-, Stein- und Eisentrümmer sogar zu streicheln. Und, seltsam, trotz der vollmundig beschworenen Chronosse und Kairosse kann man sich eigentlich ganz daheim fühlen in der hellen Bahnhofshalle.

Den tönenden Reden von den „Lichtkathedralen des 19.Jahrhunderts“ (Heine), und „Kultstätten der Pünktlichkeit“ (Virilio) trotzt der Hamburger Bahnhof mit sachlicher Schönheit. Doch dieser Effekt ist kein Zufall: „Wenn ich eine Ausstellung mache, wird es immer um mich herum eine Welt. Ob das nun thematisch ist - aber das mache ich in letzter Zeit weniger häufig, weil ich immer so wahnsinnige Häuser zur Verfügung gestellt kriege, so wie hier. Daß es mehrheitlich Skulpturen sind, ist klar, oder man vergewaltigt den Raum. Der Hamburger Bahnhof kann jetzt zum ersten Mal so erlebt werden, wie er ist. Also haben wir ganz minim interveniert, nur dort drei Radiatoren verkleidet, hier zwei Notausgänge, sonst haben wir nichts gemacht. Wenn meine Ausstellung noch diesen Nebeneffekt hat wie auf dem Monte Verit'a, wo am Ende alle Häuser gerettet wurden und eine Architekturlandschaft möglichst pur erhalten wurde, ist es ja gut. Nur, es ist ja so, ich bin hier nur ein Gastarbeiter und wenn ich wieder weg bin, machen die sowieso, was sie wollen.“ (Harald Szeemann)

Aber ein Museum der Obsessionen, in dem Geduld und Ungeduld gleichbedeutend wären, kann wohl nur eines auf Zeit sein. Und wenn es um die Zeit selber geht, in Form „verkörperlichter Zeitvorstellungen“, die den Raum definieren, nach außen als Architektur, nach innen als Skulptur? „Zeitlos“ ist eine Ausstellung von skulpturalen Werken, deren thematische Klammer der Kunstbegriff ist.

„Zeitlos“ ist ein Museum der Zeit. Die Idee des Museums ein Bahnhof. Der Ideenverwalter („animateur“) arrangiert die abgefahrenen Züge nach der einzig gültigen Ästhetik: seinem eigenen Geschmack.

Die daraus entstehende, 5.000 qm weite Intimität aber ist voller befremdlicher Gastfreundschaft. Der Kunstbegriff wäre ein sturzdumpfes Thema, würde er sich nicht unschuldig vergegenständlichen und wollte er nicht auf allgemeingültige Wahrheiten hinaus: “... daß es im Leben eines jeden Menschen einen Punkt gibt, wo jedes Zeichen selbstverständlich wird; einen Punkt, von dem aus der Häufung der Zeichen und der Gegenstände und damit der Vertiefung und Diversifizierung der Sprache nichts mehr im Wege steht.“

Die individuellen Mythologien, sie sind bloß Kunst. „Die Ausstellung will die Schaffung einer Zone der Poesie von nur künstlerischen Entwürfen, die Einladung zu einem Gang durch das Land der Stile auf die Anhöhe, auf der trotz unterschiedlicher Formen von Machtansprüchen so etwas wie olympische Ruhe herrscht.“ (Szeemann sich selbst zitierend, 1983, Der Hang zum Gesamtkunstwerk)

Weit vor dem „entr'ee de l'exposition“, das wie eine entrückte Bühnendekoration für jenseitige „Sommergäste“ aus neun Palmen und antiquarischen Schautafeln von Marcel Brodthaers visioniert wurde, wabern Fahnen aus goldener Fransengaze in den geteilten Himmel. James Lee Byars, als Performer im Goldgewand wie ein „Clown Gottes“, wenngleich nicht so grazil wie Nijinsky, darf mit sechs weiteren flaggen: „Als alter Anarchist würde ich sogar sagen, daß in solchen Fällen noch mit dem Namen des Vaterlandes operiert werden darf, um die Öffnung und Herausforderung klarer zu machen.“ (H.S. über die Notwendigkeit, „es immer wieder zu sagen“.) Vom Broodthaer'schen Wintergarten der konservatorischen Lüste breiten sich die Seitenschiffe der Neuzeit und die Haupthalle aus.

„Wenn man unterscheidet zwischen realem Raum und mystischem Raum sind natürlich die Künstler der Nachminimal-Art (Andre, Serra, Judd, Sol usw, man weiß, wer sie sind) die einzigen unter den lebenden Bildhauern, die in der großen Halle agieren können. Für die Nebenräume gibt's natürlich mehr Möglichkeiten. Bei der documenta 1972 war so etwas wie ein geheimes Thema die Schachtel: wo man rein kann. Also lieber die Verpackung akzeptieren und dann innen vertiefen als im großen Raum. Und das ist dann schon das Thema, wie man mit dem Raum umgeht. Im Grunde genommen sieht man das hier wunderbar. Mucha wollte einen eigenen Raum für sich, Ryman sowieso, Bruce Naumann brauchte einen wegen dem Ton...Das mit der Innerlichkeit ist natürlich kein Zufall.“ (H.S.)

In den Seitenschiffen also wird eher die Schachtel protegiert und problematisiert: Am deutlichsten vielleicht bei dem Belgier Jan Vercruysse, der die imaginäre Museumskiste in Teakholz anfertigen läßt, klaustrophobisch und edel, mit leerem Rahmen und leerem Podest, damit auch der Begriffsstutzigste der Wurst nicht ausweichen kann.

Im sakralen Flügelseparee baut auch Twombly aus Strandgut der Zivilisation seine Spannungsverhältnisse auf. „Das ist doch wahnsinnig, wie er mit drei Wegwerfdingen durch den weißen Anstrich eine ätherische Stimmung erzeugt, Lichteinfänger ist. Das ist es dann eben. Das ist die Verwandlung von etwas Alltäglichem in eine andere Sphäre (H.S.).“ Und während das frühe Abendlicht so schmerzhaft vollendet hereinblättert, muß man dem „glücklichen Szeemann“ einfach recht geben. Gegenüber der weißen Bescheidenheit von Twombly leuchtet dezent und eher einfältig die Neon-Variante des Tatlinischen Spiralturms von Flavin, eine kunsthistorische Replik auf den revolutionären Beginn der Moderne. Hier an den Flügelspitzen der Bahnhofs-Basilika klammern auch die zwei einzigen Gemälde (von Ryman), die in ihrer monochromen Weißtaktilibilität wohl dem Oberlicht der Architektur ihre Aufwartung machen. Das „weiße Quadrat auf weißem Grund“ scheint immer noch programmatisches Tremolo zu sein, obgleich doch mit dem Sup rematismus schon 1912 klar gewesen sein sollte, daß es nicht mehr weiter geht.

Ungewohnt düster durchstreift Daniel Buren einen bislang unbegehbaren Trakt des Bahnhofs; Boltansky archiviert Pappschachteln mit Mörder- und Opferfotografien in einem Kabuff („sentimental“, was sonst); Bruce Naumann installiert mit Casettenrecordern, Fernsehern und Cowboys die einzige „multimedia„-Show; und Thomas Virnich aus Mönchengladbach verteilt in Blei gegossene Bootsteile am Treppenansatz. In den „kleinen“ Räumen haben sich auch die drei Künstlerinnen eingenistet. Szeemann findet drei zu 30 eine angemessene Proportion. Wir finden Inge Mahn mit zwei aneinandergelehnten Säulenfragmenten (Teil einer großen Arbeit), Ingeborg Lüscher (Szeemanns Gemahlin) mit schwefelgepuderten Teilen auf Sockeln und Marisa Merz mit kindskopfgroßen verknoteten Knubbeln unter Vitrinen. Szeemann erzählt, daß Lou Andreas Salomes Männer nach neunmonatigem Zusammensein mit ihr immer ein Buch geschrieben hätten.

Die Männer des Mittelfeldes nun machen die Dinge wahr. Der Sockel einer Rodinskulptur will autonom, ein Sockel pur (Vermeieren) sein. Eine 17tonnige Eisenstange ist nur schwer und drückt sich in die Steinplatten (Rabinowitch). Hier im Hauptschiff wurde unheimlich viel, schwer und angestrengt gearbeitet. Allein die Serras aufstellen. Fünf Meter hoch baute Sol de Witt einen Würfel aus weißen Zementsteinen, ein Monstrum aus Materie, dem eine Ecke ab ist. Diese Masse plättete Carl Andre auf seine Grundfläche zu Form eines eisernen Quadrates. Manchmal soll sich über dieser „Membran“ eine Luftsäule bis zur Decke bilden. Im Goldquadrat von Byars sind eine Million Pinseltupfer unsichtbar, gleichwohl es einen leichtsinnigen Effekt hat. Fast immateriell wirken auch die Farbfelder von Laib, die, wie man weiß, aus handgesammelten Kiefern- bzw. Löwenzahnblütenpollen, entstehen. Der Fleiß macht die Ehrfurcht leicht. Wenn man allerdings die besoffenen Bienen taumeln sieht in Laibs Honigwachshaus, wird die Müslikunst schon wieder lustiger.

Und plötzlich steigt es einem selber in die Nase, Honig schliert sich in die Stirnhöhlen, ging da nicht eben jemand, steht der Serra wirklich stabil?

Doch die Lockerheit der zum Kreis und Weg angerichteten Steine Richard Longs sollte nicht über die in ihnen quasi versteinerten Intensität der Spaziergänge (Longs) samt aller dabei gedachten und gemachten Erfahrungen täuschen. Und der Preßspankasten Imi Knoebels ist nur banal für den, der nicht weiß, daß dieser die Dimension (Außenhaut) seiner Küche in der Heerstraße 19 hat. Nur: „Zeitlos“ ist einfach viel zu wenig banal.

„Die Kunst selber ist hier die Realität.“ (H.S.)

„In den 60ern hätten wir von sowas geträumt und jetzt müssen wir das ziemlichen Mist finden.“ (Jes Petersen)

„Zeitlos“, Hamburger Bahnhof, bis zum 25.9., Katalog 45 Mark

„Positionen heutiger Kunst“, Nationalgalerie, bis zum 18.9., Katalog 35 Mark

Museum der Obsessionen, Merve Verlag, 14 Mark

Individuelle Mythologien/Merve Verlag, 16 Mark