HEINRICH VON KLEIST SCHWUL!

■ Metzger Hans Neuenfels seziert seine Leiche

„Wer nie sein Brot mit Tränen aß,

wer nie in kummervollen Nächten

weinend auf dem Bette saß...“

Johann Wolfgang von konnte solche Verse auf Papier werfen und gleichzeitig den Magen seiner Seele an höfischen Eßgelagen schadlos halten. Für Heinrich von hingegen hätte jeder einzelne dieser Sätze eine Schachtel Kaptagon und 20 Hungerödeme bedeutet. Und weil Heinrich auch sehr viel gedichtet hat, schreibt er auch in einem seiner letzten Briefe über sein Leben: Es war eines „der qualvollsten, das je ein Mensch geführt hat.“ Schriebs und nahm die Pistole. Das war im Grunewald, im Jahre 1811.

Heinrich von Kleist kam aus großbürgerlichem Hause, musizierte und sang, reiste viel und gern, er verkehrte in den besten Häusern, und eines seiner Stücke wurde sogar noch zu seinen Lebzeiten von Goethe höchstselbst in Weimar inszeniert, ja, wenn einem soviel Gutes wird beschert, woran kann es dann bloß gelegen haben?

Kleist kannte die Grenze zwischen Leben und Kunst nicht. Und weil das gesamte Kulturschaffen der 18.Jahrhundertwende ohnedies eine Anhäufung von künstlichen Irrtümern war, aus einer mißverstandenen Antikenrezeption die neuen Moral- und Tugendkorsetts geschnürt wurden, bis die Damen zu jodeln begannen „Nearer my Lord to thee“, und weil Kleist sich eben alles anzog, deshalb war sein Leben auch ein großes Mißverständnis und damit auch sein Tod.

Kleist ist diesen Tod stellvertretend gestorben, für alle todessüchtigen Schöngeister, die sich weiterhin die Bäuche an den diversen Duodeztafeln vollschlugen. Und das macht diesen Tod auch so bemerkenswert und tragisch; zumindest für die satten Hinterbliebenen.

Bis heute muß einem jeden Künstler bei dem Wort „Kleist“ der Löffel im Halse stecken bleiben vor lauter Schuldgefühl. Und weil wir seit Freud wissen, daß wir Schuldgefühle nur loswerden, indem wir sie tief und psychologisch hinweganalysieren, hat Hans Neuenfels in seinem „Kleist -Projekt“ die Wannseeleiche auf die Couch gebeten. Und siehe da, hatten wir es uns nicht gleich gedacht, selbst posthum greift die vereinfachte Triebtheorie als Erklärungsmuster für ein verfehltes Leben. Und so sieht Siegmund Neuenfels‘ These aus: Schon früh verdrängte Kleist aufbegehrendes Gefühl für das gleiche Geschlecht. Diese ödipale Umlenkung ist Resultat des frühen Mutterverlustes. Fortan übernahm Heinrichs Schwester Ulrike die Rolle des inzestuösen Substitutes. Mit ihr tauschte Kleist spielerisch die Geschlechterrolle. Wir ahnen alle: Heinrich stirbt als verklemmter schwuler Transvestit im Neglige.

Sechs Stunden, 600.000 E 88-DM und den opportunen Untertitel „Stationen eines Europäers“ sowie den kalauernden Obertitel „Der streunende Mund“, plus Supertitel „Geschehnisräume“ brauchte Hans Neuenfels, um mit 19 schlampig hingeworfenen Szenenenvironments die Banalität seiner Diagnose unkenntlich zu machen. Dabei war dem Zuschauer bei soviel Narkotika nicht einmal der erholsame Theaterschlaf vergönnt, denn zunächst wurde der Theatersessel geschickt umspielt: In einem Käfig neben der Volksbühne wurde erst einmal eine Lektion in Sachen Traumaforschung erteilt. „Nicht auf den Boden spucken“, schrie eine Schar von Dunkelmännern und -frauen das Publikum von hohen Wachtürmen aus an - so schlimm kann Kindheit sein! Dann ging's auf's Parkdeck, wo Neuenfels mit viel märkischem Sand die Volksbühne in eine Volksdüne verwandelt hatte. Dort wurde das Land der Griechen mit der Kulisse gesucht. Vorm Foyer schließlich verkörperte ein zerbrochener Segelflieger gescheiterte Hoffnungen, und Ikarus und Dädalus drohten, in lächerlichen Buh-Vogel-Kostümen vom Dach zu fallen.

Nach diesen Exkursionen folgte das Exkursive auf der Bühne, auf der es viel schneite und Kleist in Decken gehüllt auf einer Parkbank schlief - so arm können Poeten sein! Erst als Kleist so richtig im Unglück war, das heißt: im Fummel und im Sarg, rückte Neuenfels endlich damit heraus, daß er, wie immer, alles besser wußte. Und deshalb inszenierte er in der Tiefgarage anschließend noch einmal eine Verbalorgie, in der jeder jeden fickte. Erlösung hieß diese Szene. Am Ende der Sechs-Stunden-Paralyse stieg Neuenfels freudestrahlend selber auf die Bühne und knutschte seinen Hauptdarsteller auf den Mund. Auch das hätte der inszenierende Homo-Hero (vielleicht) schneller haben können.

Rainer-Maria Bilka

„Der tollwütige Mund, Stationen eines Europäers.“ Ein Theaterprojekt über Heinrich von Kleist von Hans Neuenfels. Buch, Regie und Ausstattung: Hans Neuenfels. Besetzung: Thomas Bestvater, Christinae Bruhn, Markus Bluhm, Wolfram Bölzle, Henriette Cejpek, Markus Dietz, Heino Ferch, Emanuella von Frankenberg, Max Gertsch, Manfred Günther, Ulrich Haas, Ingo Hülsmann, Johanna Karl-Lory, Iris von Kluge, Ulrich Kuhlmann, Ulrich Marx, Sybilla Meckel, Barbara Morawiecz, Hans Neuenfels, Heide Simon, Hermann Treusch, Elisbeth Trissenaar, Doina Weber, Heinz Weixelbaum, Stefan Wieland.

Bis 10. Juli tägl. 19-25 Uhr bei, in, vor, an, neben der Freien Volksbühne