Es war einmal: ein Atomskandal

In Bonn dümpelt der Untersuchungsausschuß über den „Atomskandal“ ohne konkrete Ergebnisse in die Sommerpause / Verschiebung von spaltbarem Material ins Ausland bisher nicht nachgewiesen / Der Skandal ist der Alltag der Atompolitik / Wo der Atomstaat nicht reibungslos funktioniert, zeigt sich, wie er funktioniert  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Im Saal 1903 des Bundestagshochhauses „Langer Eugen“ drängen sich die Zuhörer schon lange nicht mehr. Vor einem halben Jahr versetzte der Atomskandal Bonn und die übrige Republik in Aufregung; jetzt beobachtet gerade noch eine Handvoll JournalistInnen die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung dieses Skandals. Die paar Unentwegten nennen sich selbst spöttisch die „Atomgemeinde“ - fast so, als bedürfe es einer sektenartigen Verschwörung, um das „Wintertheater“ jener Januartage immer noch nicht vergessen zu können.

Nach 34 Sitzungen ist der Atomausschuß in die Sommerpause gedümpelt. Nicht ohne Neid blickt die Vorsitzende, die Sozialdemokratin Ingrid Matthäus-Maier, auf die Kollegen im U-Bootausschuß, den ein Strauß-Brief nun wieder in bewegtere Wasser gesteuert hat. Dem Atomskandalausschuß scheint hingegen der Skandal abhanden gekommen zu sein: Die Vernehmung von 38 Zeugen und Sachverständigen hat keinen Beweis für den „ungeheuerlichen Verdacht“ erbracht, daß von deutschen Firmen spaltbares Material von Mol über Lübeck nach Pakistan oder Libyen verschoben wurde. Jedenfalls nicht in dieser so konkret wie abenteuerlich klingenden Weise, wie sie im Januar vermutet wurde. Je mehr dieser spezielle Verdacht in den Hintergrund tritt, um so mehr wird deutlich: Der Skandal ist der Alltag der Atompolitik. In diesem Alltag aber liegen die kleinen Skandale so dicht beieinander, daß kaum einer mehr wahrgenommen wird.

Der Verdacht

Was in den Tagen um den 15. Januar wirklich geschah, wird die Öffentlichkeit vielleicht niemals oder bestenfalls in einigen Jahren erfahren. Der Ausschuß konnte nur oberflächlich den Hergang der Ereignisse rekonstruieren: Auf den vagen Hinweis eines Journalisten hin sprach Ministerpräsident Wallmann öffentlich von dem Verdacht, der Atomwaffensperrvertrag könne verletzt worden sein. Es bleibt der Spekulation überlassen, ob ein erfahrener Politiker im Streß einfach „ausgerastet“ ist und damit seine Freunde in der Atomindustrie in vorübergehenden Mißkredit brachte.

Bei allem Obskuren, das diesem Vorfall weiterhin anhaftet, sollte ein Detail nicht in Vergessenheit geraten: Wallmann hielt es für möglich, daß die Hanauer Firmen mit waffenfähigem Material gedealt hatten, dennoch informierte er als erste die Aufsichtsratsmitglieder von Nukem und Transnuklear, also die potentiellen Täter. Er brach die von seinem Kollegen Weimar mit der Staatsanwaltschaft vereinbarte Vertraulichkeit, und davon erfuhren die Staatsanwälte aus den Radionachrichten. Gerade in der Stunde höchster Not, als Wallmann in der Öffentlichkeit als übervorsichtiger Saubermann erschien, funktionierte die Kumpanei zwischen Politikern und Atomindustrie also bestens. Ein Dorfpolizist, der als erstes den Beschuldigten informiert, würde vermutlich seinen Job verlieren, sinnierte der Grüne Otto Schily. Für den Ministerpräsidenten im Atomland Hessen dürfte ein solches Vorgehen hingegen geradezu ein Qualifikationsmerkmal sein. Gerade da, wo der Atomstaat anscheinend nicht reibungslos funktioniert, läßt sich studieren, wie er funktioniert. So platt kann die Wirklichkeit sein.

Die Kontrollen

Nicht nur, weil ein kundiger Mann wie Wallmann das Verschiffen von Bombenmaterial an den internationalen Kontrollen vorbei für möglich hielt, hat das Image dieser Kontrollen arg gelitten. Die Tätigkeit der internationalen Agentur IAEA und der europäischen Euratom, bisher nur wenigen Spezialisten vertraut, ist durch die Anhörungen im Ausschuß ihres Mythos beraubt worden: jenes Mythos, die Kontrollen könnten verhindern, daß waffenfähiges Material innerhalb eines Landes oder international weiter geschleust wird. Die Funktionäre der Agenturen mußten zahlreiche Schwachstellen einräumen: zuwenig Geld, zuwenig Personal, zuwenig Entgegenkommen der Betreiber und der Staaten.

Auch die CDU-Abgeordneten kennen den internen „Safeguard Implementation-Report“ der IAEA, in dem die Agentur minutiös all ihre Probleme auflistet. Doch wider besseren Wissens stützt die CDU weiterhin die Lebenslüge der Atomindustrie, es gebe quasi eine chinesische Mauer zwischen der zivilen und der militärischen Nutzung. Der Verdacht, die BRD könne gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen haben, sei „abwegig in Anbetracht der strengen und intensiven Überwachung deutscher kerntechnischer Anlagen durch die internationalen Kontrollbehörden“, schreibt der CDU-Obmann Dr. Manfred Langner in einem Resümee der bisherigen Ausschußarbeit. Ohne rot zu werden, beruft er sich dabei auf „alle gehörten Sachverständigen und Zeugen“.

Die SPD wiederum wird zwar nicht müde, allgemeine Kontrollmängel als neuerlichen Beweis für die Notwendigkeit des Ausstiegs aus der Plutoniumwirtschaft herauszustellen. Aus taktischem Kalkül vermeiden es die Sozialdemokraten jedoch, auf dem dabei politisch brisantesten Punkt zu insistieren: daß nämlich gerade die Bundesrepublik die Verhandlungen über Kontrollabkommen für einige ihrer Anlagen, vor allem die Firma Alkem, erschwert. Da hierüber seit einem Jahrzehnt verhandelt wird, fällt die Verantwortung teilweise in die Ära der SPD-Regierung, ebenso die Lieferung von Nuklearanlagen an Länder wie Argentinien und Brasilien, wo nicht der gesamte Brennstoffkreislauf den internationalen Kontrollen unterliegt. Die Grünen sprachen zwar die umstrittenen Alkem-Kontrollen mehrfach an, allerdings mehr im Stil kurzatmiger Effekthascherei, ohne erkennbares politisches Konzept. Die dubiose Rolle, die die BRD in der internationalen Non-Proliferationspolitik spielt, blieb also weitgehend im Dunkeln.

Die Swaps

Auf das Erstaunlichste entpuppte sich der skandalöse Alltag der Atompolitik beim sogenannten „Flaggentausch“ (swap), der Änderung von Herkunftsbezeichnungen von Uran, mit der Embargos wie zum Beispiel für südafrikanisches Uran umgangen werden können. Das Publikum war empört, die Sowjetunion schimpfte auf Euratom, selbst Töpfer zeigte sich beunruhigt. Doch auch dieser Skandal hielt sich nur wenige Wochen: Euratom-Funktionäre schoben immer neue Erklärungen nach, bis sich die Empörung zunächst in Verwirrung wandelte und schließlich im Vergessen entschlief. Nach offizieller Lesart ist Flaggentausch legal, wenn Material mit annähernd gleicher Isotopenzusammensetzung getauscht wird; zudem gebe, wie bei jeder Ware, nach allgemeinem Handelsrecht eine wesentliche Verarbeitungsstufe (in diesem Fall die Konversion) dem Uran eine neue Nationalität. Frei nach dem Motto: Nicht der Holzfäller, sondern die Stuhlfabrik entscheidet über das „Made in XY“, das auf dem Stuhl klebt.

Nachdem Georg von Klitzing, Direktor der Brüsseler Euratom -Versorgungsagentur, dem Ausschuß so die Normalität des vermeintlichen Skandals verklickert hatte, war das Thema gestorben. Es bleibt die Absurdität, daß sich das Uran Südafrikas nach dieser Erklärung per definitionem weltweit in nichts auflöst, sobald es eine Konversionsanlage passiert hat. Für das Unterlaufen des Embargos wird die gefährliche Fracht solange auf der Welt herumtransportiert, bis sie „gewaschen“ ist. Der ganz legale Wahnsinn.

Die Exporte

Auch ein angeblich so „ungeheuerlicher“ Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag könnte sich gleich mehrfach im Alltag der bundesdeutschen Exportpolitik finden, in den legalen und illegalen Nuklearexporten der vergangenen anderthalb Jahrzehnte nach Argentinien, Brasilien, Südafrika, Pakistan... Diesen heiklen Stoff will der Ausschuß im September im Schnellverfahren erledigen. Es habe keinen Sinn, meint die Vorsitzende Matthäus-Maier, lange in der Vergangenheit herumzuwühlen: „Allen ist klar, daß die Exporte früher zu lasch gehandhabt wurden und daß das heute anders ist.“ Der CDU-Abgeordnete Langner, der sonst keine Attacke gegen frühere SPD-Regierungen ausläßt, spricht in verdächtiger Solidarität von der „strikten Nichtverbreitungspolitik aller bisherigen Bundesregierungen“. Das riecht nach gegenseitiger Absolution der Altparteien zum Wohle der deutschen Wirtschaft.

Es gibt genug Beispiele dafür, daß mitnichten ein Schlußstrich unter alle Sünden gezogen wurde. Gegen die Firma LeyboldtHeraeus, die über die Schweiz Urananreicherungstechnik nach Pakistan geschafft haben soll, ermittelt die Staatsanwaltschaft noch immer. Erst vor wenigen Wochen kam ans Licht, daß das Karlsruher Kernforschungszentrum in Südafrika Patente für sein Trenndüsenverfahren angemeldet hat. Der Düsseldorfer Nuklear -Händler Alfred Hempel hat nach Ansicht von US-Experten mit Lieferungen von schwerem Wasser zur indischen Atomrüstung beigetragen. Dies sind allein drei Fälle, wo vermutlich der Atomwaffensperrvertrag von bundesdeutscher Seite verletzt wurde - sie sind weder aufgeklärt noch geahndet. (Es dürfte spannend werden, wie sich der Ausschuß darum herumdrücken will.)

Die Parteien

Eine konsequente Linie verfolgt im Untersuchungsausschuß bisher nur die CDU. Wenn ein ansonsten kritischer Sachverständiger einen positiven Satz über die deutsche Atompolitik sagt, können die Zuhörer ihren Notizblock darauf verwetten, daß dieser Satz eine Stunde später als Kernstück einer Pressemitteilung der Union auf dem Markt ist. Zur Verteidigung der Atomindustrie und ihres politischen Systems gehört dabei durchaus, auch einmal den Finger auf allzu offenkundige Schwachstellen zu legen. Eine als übertrieben empfundene Geheimhaltepolitik zum Beispiel, wie sie lange für den Plutoniumbunker in Hanau praktiziert wurde, muß das Mißtrauen der Öffentlichkeit wecken. Dem CDU-Abgeordneten Schmidbauer entfuhr zu diesem Problem der schöne Satz: „Nichts tut mehr not, als den Schleier da wegzunehmen, wo er am falschen Platze ist.“ Am richtigen Platze ist der Schleier, wenn das Wirtschaftsministerium fast die Hälfte seiner Akten für den Ausschuß mit dem Stempel „vertraulich“ versieht. Natürlich erschwert es die Aufklärung, wenn Unterlagen zu Nuklearexporten nur in der Geheimschutzzelle des Bundestags eingesehen und nur in nichtöffentlicher Sitzung behandelt werden können.

Die mit der FDP gemeinsam betriebene Praxis, die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen gegenüber den Medien entweder für die eigene Position zu vereinnahmen oder ihnen die Kompetenz abzusprechen, treibt zuweilen merkwürdige Blüten: Den aus den USA geladenen Nuklearterrorismusexperten Paul Leventhal machte die CDU zum Kronzeugen dafür, wie sicher doch die deutschen Anlagen seien, während die FDP -Abgeordneten den Amerikaner zur gleichen Stunde in einer Presseerklärung verspotteten: „Paul Leventhal jagt Dr.No.“ „James Bond läßt grüßen“, höhnten sie über den Sachverständigen. Seine Warnungen vor der Bombe schien den Liberalen nur für eine „Mitternachtsgänsehaut im Pantoffelkino“ gut.

Nur eine der 34 Ausschußsitzungen im „Pantoffelkino“ 1903 hinterließ bei dem forschen FDP-Abgeordneten Ulrich Irmer einen „beklemmenden Eindruck“: Der Präsident des Bundesamts für Wirtschaft glänzte zum Thema Nuklearexporte mit soviel geballter Inkompetenz, daß Irmer bei der Behörde - immerhin im Verantwortungsbereich seines Parteikollegen Bangemann mutig die „gebotene Sensibilität“ vermißte. Eine Sternstunde des Ausschusses: Ausnahmsweise waren sich alle Fraktionen einig.

Anders als ihre träge wirkenden SPD-Fraktionskollegen strahlt die Vorsitzende Ingrid Matthäus-Maier ein Interesse aus, in diesem Ausschuß wirklich etwas herauszufinden. Als erste Frau an der Spitze eines Untersuchungsausschusses hat die ehemalige Freidemokratin ihr persönliches Fortkommen in der Politik an einen Erfolg dieses Ausschusses gehängt. Als einzige legte sie ihr bisheriges Amt (im Finanzausschuß) nieder; folglich kann sie wenig Interesse daran haben, bis zum Herbst 1989, dem anvisierten Zeitpunkt für einen Abschlußbericht, an einen Ausschuß gekettet zu sein, der nur Alibicharakter hat und ohne Effekt auf das politische Geschehen bleibt.

Die Grünen-Abgeordneten Otto Schily und Michael Weiß haben mit dieser agilen Vorsitzenden keine schlechten Karten, doch nutzen sie diese Chance bisher wenig. Als radikale Atomkraftgegner und einzige Partei, die nicht auf eigene Leichen im Keller Rücksicht nehmen muß, hatten die Grünen im Januar sogar den Vorsitz in diesem Ausschuß gefordert. Der Atomskandal sei schlimmer als der Flick-Skandal, mutmaßte Otto Schily damals. Doch als jener scheinbar griffige, spektakuläre Anfangsverdacht zerrann, taten sich die Grünen schwer, für die Mühen der Ebene den rechten Biß zu finden. Das abflauende öffentliche Interesse spiegelten sie eher wider, statt ihm entgegenzuwirken. Dabei dürften sich Aktivisten der Anti-AKW-Bewegung die Finger nach den Bergen von Atomakten lecken, die nun - als vermutlich einmalige Gelegenheit - zum Ausschlachten zur Verfügung stehen.

Von der Politik überholt

An die 90 Zeugen will der Ausschuß noch vernehmen, vor allem zu jenem Untersuchungsbereich, der im Ausschußjargon „der Fässerkomplex“ heißt: die Falschdeklaration von Atommüll und die Bestechungszahlungen in Millionenhöhe durch die Firma Transnuklear. Während das parlamentarische Gremium diesen eigentlichen Atommüllskandal noch nicht einmal in Angriff genommen hat, ist es von der konkreten Politik, für die die Abgeordneten doch Empfehlungen abgeben sollen, längst überrollt worden.

Die „Änderung von Unternehmungsstrukturen“, die „Neuverteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern“ sowie die „Änderung der Organisation von und in Behörden des Bundes“, wie es im Untersuchungsauftrag heißt - all dies ist von Umweltminister Töpfer im Verbund mit der Atomindustrie längst in die Wege geleitet worden. Der Ausschuß hat kommentarlos hingenommen, daß er auf die Zuschauerbank verwiesen wurde. Nur ein einziges Mal wurde im Saal 1903 angedeutet, daß Töpfers „Neuordnung der Atomwirtschaft“ alten Filz durch neuen ersetzt: Auf hartnäckiges Befragen von Otto Schily äußerte der für Atomtransporte zuständige Abteilungsleiter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, Dr. Collin, Kritik daran, daß die RWE-Tochter „Reederei Spedition Braunkohle GmbH“ nun als Anteilseigner wieder im Transportgeschäft tätig ist, nachdem sie - für Töpfers Glasnost - zuvor ihren eigenen Transportsektor an eine staatliche Firma abtrat. Der Ausschuß ging hernach zur Tagesordnung über.

So könnte die Veranstaltung im 19. Stock des „Langen Eugen“ auf Dauer zu einem Volkshochschulkurs ausarten: Thema „Diverse Aspekte der Atompolitik“, Teilnehmerzahl: begrenzt. Irgendwann, zwischen Barschel und Spielbank-Affäre, gab es da nicht einen Atomskandal?