Nichtigkeit und Revolution

■ Paris im Jahr des 199.Nationalfeiertags

Fritz von Klinggräff / Alexander Smoltczyk 1. Pariser Indifferenz 1988

„Wenn die Veranstalter des Bicentenaire durch ihr Fest Begeisterung hervorrufen wollten, so bedürfte es etwas ebenso Furchtbaren wie Großartigen wie der Französischen Revolution. Aber das ist wohl nicht ihre Absicht. Es wird keine Revolution geben im nächsten Jahr.“ Feinsinnig zündet sich der Pariser Philosoph die nächste Zigarette an. Die niedrigen Ikea-Sessel zwingen zu einer eingefalteten Haltung, die Fran?ois Lyotard das Aussehen eines Raben oder einer Krähe geben.

Keine Eroberung einer neuen Bastille also, und wohl noch nicht mal ein richtiges Fest sind im nächsten Jahr zu erwarten. Außerhalb der Universitäten und einer noblen Etage in der Rue Talleyrand, wo das Festkomitee seine Generalstände abhält, herrscht im Paris dieser Wochen gähnende Indifferenz gegenüber dem nationalen Ereignis. Robespierre, Marat? - Nie gehört; nur Heidegger vermag die müden Geister noch zu wecken. Die Revolution ist ein erloschener Stern.

„Natürlich werden alle feiern, doch jeder für sich und jeder etwas anderes. Enthusiasmus wird es nicht geben“, raucht der Denker weiter und wird deswegen auch nicht aus seiner freundlichen Skepsis gerissen werden, wie einst sein Vordenker Immanuel Kant, mit dem ihn nicht nur der hagere Gestus verbindet. 2. Kant aus dem Häuschen

Kant, der den Stoizismus, die Unbewegtheit im Angesicht der großen Bewegungen so sehr der Regung der Begeisterung vorzog, wird von den Ereignissen in Frankreich magnetisch angezogen und ihnen auf Dauer verbunden bleiben. Der Revolutionshistoriker Jules Michelet wählt den trockenen Kritiker gar als Beispiel dafür, wie eine Idee, wenn sie nur richtig ist, Herz und Instinkt jedes Menschen ergreifen muß; dementsprechend enthusiastisch auch seine Schilderung des Unerhörten: „Kein Mensch, sondern ein System, eine lebendige, spitze und harte Scholastik, eine Klippe, ein diamantscharfer Fels im Granit der Baltischen See. Jede Religion, jede Philosophie war daran gebrandet und zerschellt. Er stand unerschüttert. Die Außenwelt kümmerte ihn nicht. 60 Jahre lang trat dieses völlig abstrakte, menschenfremde Wesen zur selben Stunde aus dem Haus und machte, immer alleine, immer genau den gleichen Spaziergang. Eines Tages sahen die Königsberger etwas Seltsames (und es war ihnen ein Zeichen gewaltiger Ereignisse): Dieser Planet geriet aus der Bahn, verließ seine gewöhnliche Straße. Man folgte ihm, er ging nach Westen, der Straße zu, auf welcher Post aus Frankreich kommen mußte.“ 3. Kein Ereignis am 14.Juli

Auf welche Neuigkeit wartete der derart aus dem Häuschen geratene Kant? Weiß man, was am 14.Juli 1789 geschah? Geschah überhaupt etwas, das der Begeisterung wert wäre? Eine Festung wurde gestürmt, in der lange schon keine politischen Häftlinge mehr einsaßen. Ein paar Gefangene wurden befreit, der Hauptmann der Festung geköpft. Das Volk tanzte auf den Straßen vor dem längst funktionslosen östlichen Punkt der Hauptachse des königlichen Paris. Kein Ereignis also, sondern eher die Schöpfung eines Symbols in der Zerstörung seines Gegenstandes. Und eben darin doch etwas Neues; in diesem Enthusiasmus für nahezu nichts liegt etwas von dem Erhabenen, das, so Kant, „weit mächtiger und dauerhafter wirkt als der Antrieb durch Sinnesvorstellungen“: der Widerstreit der Gefühle angesichts etwas Unbegreiflichem.

In Königsberg wird einer durch die Post aus Paris aus der Bahn geworfen. Er wurde in Schrecken und Begeisterung zugleich versetzt, erklärt der Pariser postmoderne Philosoph: „Darin war es ein Geschichtszeichen. Kant schreibt, daß die Völker Europas in diesem Chaos und diesem Schrecken etwas vernommen hätten und darin einen Fortschritt der Idee und der praktischen Vernunft, der Freiheit und des Rechts erkannt hätten und eben deswegen eine Begeisterung verspürten.“ So wird, wie in der deutschen Übersetzung, ein gesellschaftliches Ereignis, die „prise (Einnahme) de la Bastille“, zu einem Naturereignis; zu einem „Sturm“, der Gesellschaft, Freiheit und Recht aus sich entläßt. 4. Enthusiasmus

für einen kalten Stern

In einem anderen Zentrum der Pariser Moderne, dem Sitz der Fondation Saint-Simon im Quartier Latin, schreibt jemand seit 20 Jahren gegen jede emphatisch betriebene Revolutionsgeschichtsschreibung, die die eingerissene Bastille zum Ursprungsereignis einer neuen Gesellschaft stilisiert. Beharrlich betont der Historiker Fran?ois Furet die politische Geringfügigkeit der Großen Revolution, die nur eine unmerkliche Veränderung bewirkte: An die Stelle des königlichen Souveräns tritt le peuple.

Der Gedanke der Zentralisierung der Macht in den Händen des Souveräns, die eigentliche Abkehr vom Feudalismus, war 1789 schon längst realisiert. 1789 - nur eine Neubesetzung einer politischen Form. Dennoch kann Furet von seinem Objekt nicht lassen: „Ich liebe die Französische Revolution.“ Stoisch beharrt er deshalb in einem Enthusiasmus, zu dem Kant noch wider Willen kam: Das Ereignis mag für ihn eine Veränderung gebracht haben, die auch anders angestanden hätte, geboren aber wurde der paradoxe Traum vom König Volk, der seit 200 Jahren in allen seinen Möglichkeiten durchgespielt wurde. Und doch: „Feiern kann ich die Revolution deswegen nicht. Ich reise im nächsten Frühjahr jedenfalls in die USA.“ 5. Das Bundesfest 1790

Aber vielleicht feiert Frankreich auch gar nicht den 14.Juli 1789, sondern eher die Erinnerung an ein anderes Fest. Denn noch bevor Kant seine Thesen über die Revolution niederschreiben wird, beschwört schon am 14.Juli 1790 ein schönes, farbenprächtiges Fest, was dem Beobachter ein Jahr früher nicht schön, sondern unbegreiflich schien: die Autonomie - eine Nation, die sich selbst ihr Gesetz gibt und sich selbst dadurch erst gründet. Mit dem Bundesfest auf den Champs de Mars, dem Ereignis, wird 1789 (das Nicht-Ereignis) zum Ursprung einer neuen Zeit bestimmt, die Erfahrung eines Jahres wird Erkenntnis.

Gemeinsam bereitet die frischgebackene Nation ihr Fest vor. Selbst der Marquis Lafayette und die Damen der Faubourgs arbeiten mit bändergeschmückten Spaten, um die Tribünen für den neuen Souverän, das Volk, zu errichten, und staubresistente Kleider werden zur Mode des Pariser Sommers. Die gemeinsamen Festvorbereitungen als neues Ideal vom Erscheinen einer Menge erst durch einen jeden. 6. Die Weltausstellung

In den Jahren nach Napoleon, der sein Monument, den Triumphbogen, wieder in die alte „Königsachse“ gestellt hatte, wurde es leerer auf den Marsfeldern. Nur Michelet saß im Juli im verwelkten Gras und „atmete den frischen Wind, der über die trockene Fläche streicht. Das Marsfeld ist das einzige Denkmal, das die Revolution hinterlassen hat. Sie hat zum Denkmal - die Leere.“ Doch nicht lange, dann füllte es sich wieder. Denn die Republik erkennt sich als Moderne. 1889, an ihrem 100.Geburtstag, ist die Revolution dingfest gemacht. Die Muskelkraft Lafayettes ist durch Elektrizität ersetzt, die Uniform der Nationalgardisten durch orientalische Gewänder. Anläßlich der zweiten Weltausstellung läßt sich Paris in einer elektrischen Eisenbahn zu den „Champs de Mars“ transportieren, um in der „Straße von Kairo“ seine Kolonien zu erleben. Staunend flaniert man durch die Szenerie von wirklichen Gerüchen, Waren und Menschen aus Arabien. Das Bundesfest von 1790 wird zum Familienfest; die Zeremonie der Solidargemeinschaft Nation wird abgelöst durch die Zurschaustellung der Welt in ihrem Mittelpunkt. So spiegelt an ihrem 199.Geburtstag das Marsfeld die Republik den 25 Millionen Besuchern als bunter Dinge Vielfalt zurück - und als eine Welt, die von alleine geht.

Über allen Köpfen aber erhebt sich (aus der Ferne erst schön) der Schatten eines neuen Körpers, auch er Objekt von Furcht und Staunen: das eiserne Skelett der Moderne nach den Plänen des Ingenieurs Eiffel. Maupassants Schrecken daran beweist seine erregende Neuheit besser als jede Begeisterung: Wie in den Mittelpunkt des Malstrom wird sich der Dichter von nun an immer wieder in die Spitze des Eiffelturms zurückziehen, als den einzigen Ort in Paris, wo die drohende Gestalt verschwindet.

Die Revolution aber ist darüber vergessen. 1889 feiern die Gründerjahre sich selbst, weil sie kein Gründungsereignis mehr brauchen. Die Ereignisse vom Ende des 18.Jahrhunderts scheinen vollendet und nach vielen Irrungen zu ihrem guten Ende gebracht, sie stellen keine offene Vergangenheit mehr dar, die zu kommemorieren wäre. Kommemoration, das Zusammendenken von Gestern und Heute, wird zur Einverleibung der Vergangenheit durch die Gegenwart. Die moderate Dritte Republik sucht nichts weniger als einen neuen Streit um ihren Ursprung. So wird ausgeklammert, was den republikanischen Konsens zerstören könnte: die Jahre des Jakobinismus, aber auch des Terrors ab 1793. Man feiert 1789, und am festlichsten den 4. und 5.August, die praktische Vorbereitung der Menschenrechte, „das Glaubensbekenntnis der neuen Zeit“ (Michelet), in dem sich Links und Rechts in operettenhafter Harmonie treffen. Die beiden großen Projekte zum Gedenken, die Errichtung eines Revolutionsmuseums und die erneute Inszenierung des Bundesfestes, fallen aus - wegen Desinteresses. Kein Wunder: 1789 ist endlich erledigt und aufgehoben in der unheimlichen, aber großen Moderne.

Deswegen darf jetzt auch wieder gefeiert werden (nachdem der Feiertag der Nation unter Napoleon überflüssig und abgeschafft war: Der 14.Juli wird zum Nationalfeiertag erklärt. Jenseits von allen Jahresfeiern (wenn auch noch als umstrittene Veranstaltung) entsteht so in diesen Jahren ein neues Datum, das heute längst in der Erfahrung jedes Franzosen Sommer- und Ferienanfang, die Flucht der Städter aufs Land, Kinderfest und Tanz unterm Wasserfall des Brunnens vom Place St.Sulpice mit der „Prise de la Bastille“ verbindet. Doch mehr ein Fest des Festes, als ein Fest der Geschichte. 7. Der Bicentenaire

Neben dem Place de la Bastille wird heute wieder gebaut, Kräne hieven bis spät nachts Fassadenbausteine in die Höhe, als gelte es, etwas gutzumachen. Doch nein, 200 Jahre nachdem der Kopf des bedauernswerten Kommandanten de Launey auf der Pieke herumgetragen wurde, findet das Erhabene nur mehr im Saale statt, hier entsteht die neue Pariser Oper: „Chantier interdit au public“ - der Öffentlichkeit ist der Zutritt untersagt.

Doch das eigentliche Monument für Mitterrands Bicentenaire steht am Ende der Königsachse Bastille-Louvre-Etoile: ein großer Bogen mit dem sonderbaren Namen „Große Arche“, der den Triumphbogen Napoleons auf der Etoile um mehr als das Doppelte überragt. Einen großen Spiegel, der Paris auf sich selbst zurückgeworfen hätte, verwarf der Präsident; während die Jakobiner schon in den Bergen einen Verrat am Prinzip der Gleicheit sahen und sie am liebsten abgetragen hätten, wünschte sich der Präsident etwas Hochaufragendes, das eine Spur in der Geschichte hinterlassen sollte. „Die Feier soll dem geschichtlichen Ereignis gleichkommen“, hatte er gleich nach seiner ersten Wahl im September 1981 festgesetzt. Also genauso groß und schrecklich wie die Revolution? Ein leuchtendes Zeichen für die Welt?

Mitterrands Tragik liegt darin, daß sein Traum einer großen, geeinten Feier, die wieder in einer Weltausstellung gipfeln sollte, schon an dem kleinlichen, aber sehr realen Zwist der Parteien scheiterte: Die Weltausstellung wurde von der Stadtverwaltung, auf deren Gelände das Spektakel stattfinden sollte, abgesagt und vom Pariser Bürgermeister Chirac als sozialistische Selbstdarstellung vehement bekämpft. So wird aus der Komödie von 1889 im nächsten Jahr eine Tragödie werden. Nicht allein deshalb, weil ein mysteriöses Omen alle Präsidenten des Festkomitees hinweggerafft hat (Michel Baroin stürzte mit dem Flugzeug ab, Edgar Faure verstarb nach kurzer Krankheit im April, und Festarchitekt Speckelsen starb noch während der Bauarbeiten) -, sondern weil ein Fest der Einheit in einer zersplitterten Gesellschaft gefeiert werden soll.

Die seit der Dritten Republik identitätsstiftenden Ideen von 1789 „Freiheit, Gleichheit et cetera“ (wie Serge Gainsbourg singt) sind durch zu häufigen Gebrauch banal und sinnentleert geworden. Weder vermitteln sie echte Einigkeit noch rufen sie den alten Streit wieder neu herbei: „Es gibt keinen politischen Repräsentanten der Konterrevolution mehr in Frankreich. Selbst die Front National definiert sich nicht gegenüber 1789“, meint Pierre Nora, Herausgeber einer bislang dreibändigen Reihe zu den politischen Symbolisierungen des modernen Frankreichs. Über die Legitimität des Souveräns „Volk“ wird in Frankreich nicht mehr gestritten; höchstens, wie in der Debatte um das Wahlrecht für Ausländer, darüber, wer zum „Volk“ gehören darf...

Aber derartigen Aktualisierungen, die einem Sturm auf neue Bastillen, wie Frankreichs Alternativer Jean Chesnaux meint, gleichkämen, wird sorgsam aus dem Weg gegangen. Im Gegenteil. Mitterrand übersteigert den Zentrismus der Dritten Republik noch durch die Wahl des notorischen „Ultrazentristen“ Edgar Faures zum Präsidenten der „Mission du Bicentenaire“. Und wie bei allen großen Geschichtsfeiern, in der sich jeder wiederfinden soll, endete die Suche nach einem einigenden Gründungserlebnis im Nichts: In luftiger Höhe schwebt, untergebracht im Dach des großen Bogens, Edgar Faures Büro einer Gesellschaft für Menschenrechte und Humanwissenschaften. Denn unter dem Druck der Konservativen wurde die Revolution vom Festkomitee sterilisiert: Guillotine, Vendee-Guerillabekämpfung und die aufgepiekten Köpfe des 14.Juli wurden vergessen, und man beschloß, allein die Erklärung der Menschenrechte zu feiern. Damit konnte auch die Neue Rechte zum Revolutionstanz geladen werden. Das widersprüchliche Geschichtsereignis Kants wurde von jedem Inhalt geleert, daß tatsächlich vom Comte de Paris bis zu Jean-Marie Le Pen jeder mitfeiern kann. Die Revolution wurde zur Feier kaltgestellt, damit jeder Gast davon etwas wird haben können.

So endet die immer vergebliche Suche nach Identität wie schon bei Diepgens Berlin-Pogo in bunter Beliebigkeit. Wie um die beängstigende Leere und Unberechenbarkeit, die Michelet und auch Furet an 1789 bewundern, zu verdrängen, wird das nächste Jahr angefüllt mit Nichtigkeiten. Und jeder tut, was er schon immer tat: Technomanen begeistern sich am „Kommunikationspark“ im Sockel des Bogens, liberale Unternehmer singen die Hymne auf Freiheit ud Gleichheit des europäischen Kapitalmarktes, und Ästheten bauen aus Ziegelsteinen einen Erlebnisraum Bastille, der am 14.Juli von einer enthusiastischen Menge gestürmt wird. Aus dem Geschichtszeichen werden Souvenirs. Anything goes revolution, so lautet die Botschaft Frankreichs an die Welt.

„Möge das Jahr schnell vorübergehen und die Revolution nicht weiter durch solche Beliebigkeiten gestört werden; bis die neue Bastille Modernität gestürmt werden kann“, meint Jean Chesnaux. Dann wird auch der 14.Juli wieder so gefeiert werden können wie immer: ohne Identitätsballast, als Fest des Festes eine Erinnerung an das Marsfeld 1790, als Sommerbeginn und Ferienanfang, in dessen Namen des „Aufruhr!“ zischelt, mit Feuerwerk und nächtlichem Bad im Brunnen von St.Sulpice.