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Licht im Papier

■ Zu Hubertus von Amelunxen: „Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot“

Ulf Erdmann Ziegler

Ein schweres Buch im Querformat; starkes, stumpfes Werkdruckpapier. Die bräunlichen Photographien springen den Betrachter nicht an. Sie müssen gewendet, befühlt, ent -blättert werden: frühe Lichtbilder von Talbot. Die Himmel wie schmutzige Kalkwände, verhuschte Figuren, merkwürdige Lichtflecken, Spuren von Chemie und Handarbeit, Knicke in den Vorlagen. Diese Bilder sind schon ganz photo -ikonographisch: leere Plätze, Plakatwände, Türme und Tore; Perspektiven, die sich mit der Mühe des Fußgängers in den Boden schieben und von dort her das Bild tragen.

Die Situation liefert das Klischee für die Erfindung der Photographie: Talbot will eine Landschaft zeichnen, ist ungeschickt, nimmt Camera obscura und Camera lucida zu Hilfe (das Zeichengerät, das den Ausblick im Prisma auf eine Miniatur zusammenschmelzen läßt). Er scheitert kläglich. Das ist doch nicht der Comer See. Starre Striche, halb kindlich, halb maschinenmäßig, erinnern blaß an die Hochzeitsreise eines englischen Adeligen namens Talbot, 1834.

Natürlich weckt eine Hochzeitsreise Leidenschaften. Aber Talbot ist nicht Maler, sondern Wissenschaftler, Botaniker vor allem. Die Botanik hat vor der Entdeckung der genetischen Gesetze nicht viel mehr zu tun als Zweierlei: unterscheiden, was verschieden ist, und unterscheiden, was sich ähnelt. Es ist eine Wissenschaft, die Sprache an ihre Grenzen treibt, instrumentalisiert, schwingend „wie ein Pendel zwischen Metapher und Neologismus“ (von Amelunxen). Eine Wissenschaft, die kein großes Ansehen genießt in einer Zeit, in der Ovid zur Erholung am Kamin gelesen wird, während die Mathematik und die Physik das Wissen umkrempeln, stapeln, ausbreiten, und die vielbesungene Natur der Romantik zur Industrielandschaft verhackstücken.

Gerade ist, 1822, ein großer Mythos der Zeit zerbrochen. Die Hieroglyphen, die dafür gestanden hatten, daß in der Schrift die Geschichte des Menschen als Gebärde aufgehoben sei, wurden von Champollion als ein im wesentlichem phonetisches System entschlüsselt. Insofern war die Botanik, was die Betrachtung der Sprache angeht, der Zeit voraus. Die Beschreibung der Pflanzen lenkte die Aufmerksamkeit auf den aktuellen Stand der Sprache, synchronisch, frei vom geschichtstümelnden Fieber der Etymologie, die in der „Urschrift“ ein göttliches Geheimnis verborgen wähnte.

Der Botaniker Talbot, aus Italien zurückgekehrt auf seinen Landsitz Lacock Abbey, legte seine Pflanzen auf mit Silbersalzen getränkte Papiere und freute sich über die hellen Schatten, die sie hinterließen: „photogenische Zeichnungen“ nannte er diese Bilder; Photogramme, würde man heute sagen. Bis das Fixiermittel gefunden war, verschwanden die Pflanzenschatten zwischen Buchseiten. Dann, als der Prozeß funktionierte, photographierte Talbot mit der Camera obscura das Südfenster der Abtei Lacock, von innen nach außen. Auf dem Papier, das die Spuren des Lichts im Negativ zeichnet, zählte Talbot gut 200 Glasfenster mit der Lupe nach (das Bild war nur 1,6 mal 1,6 Zentimeter groß, Pocketnegativformat quasi); dunkle Löcher, die durch ein feines helles Netzwerk getrennt und verbunden waren: Die Zahl der Fenster stimmte, und was man zählen konnte, war bewiesen. Die große Idee verschwand in der Schublade, im Sommer 1835.

Immerhin, das Schattenbild einer Pflanze, und mehr noch die Mikroskopie eines Pflanzendetails, umgeleitet auf Papier und haltbar gemacht, leistete, was Sprache kaum leisten konnte: Klassifikation nach Augenschein, Urteile in Lichtgeschwindigkeit. Das Ähnliche und das Unähnliche unterscheiden: ein Kinderspiel für den, der gelernt hat, genau hinzusehen.

Der Franzose Daguerre, Bühnenmaler von Beruf, hatte mit seinen Riesendioramen schon das gemeine Volk von Paris und London staunen gemacht. Daguerre, des Zeichnens zahlloser Vorlagen müde, tat sich mit dem Erfinder Niepce zusammen, der schon seit zwanzig Jahren probiert hatte, sein Lichtbild der Natur zu fixieren und - nach dem Verfahren der Lithographie - zu drucken. Er arbeitete mit schwerfälligem Material, Metall, Teer und Säuren. Daguerre, der Theatermann, machte daraus eine Art Polaroid: ein Direkt -Positiv und Unikat, das gleich nach der Aufnahme entwickelt wurde. Träger war eine versilberte Kupferplatte. Was sich darin einzeichnete, mit Quecksilberdämpfen sichtbar gemacht, war seitenverkehrt. Drucken (wie eigentlich geplant) konnte man das nicht.

Talbot, der die Bücher seiner Zeit kannte, führende Wissenschaftler und das Funktionieren der Maschinen: die Geschwindigkeit seiner Zeit hatte er unterschätzt. Der französische Staat kaufte Daguerres Erfindung und verkündete sie im Januar 1839 als nationale Heldentat.

Innerhalb weniger Wochen brachte nun Talbot seine Technik auf einen vorzeigbaren Stand. Zwei Vorteile hatte sein Verfahren gegenüber dem Daguerres: das Objekt wurde seitenrichtig abgebildet, und wenn man das (Papier-)Negativ erst einmal hatte, konnte man davon beliebig viele Positive herstellen, indem man dem Negativ ein sensibilisiertes Papier unterlegte und die Sonne draufscheinen ließ. Die hellen Schatten erschienen - so selbstverständlich ist das heute - dunkel.

Talbot nutzte die Chance, die ihm der Negativ/Positiv -Prozeß gab, und verschickte Talbotypien an alle, die er für wichtig hielt im „Prioritätsstreit“ mit Daguerre. Alexander von Humboldt in Berlin mokierte sich über Talbots „armselige Chlorsilberbilder, weiße Silhouetten scheinbar nach alten Drucken, über die man mit dem Ellenbogen gefahren ist“. Das glänzende Plättchen Daguerres, in dessen Spiegelung sich der Betrachter zur Not auch frisieren konnte, gab mehr her als die bräunlichen Papierbildchen Talbots, die ersten „prints“ der Photogeschichte.

Die Entwicklung der Daguerreotypie blendet der Autor der neuen Talbot-Monographie, Hubertus von Amelunxen, sachgebunden - weitgehend aus. So erscheint es geradezu logisch, daß ein besonnener Forscher wie Talbot, der in den vierziger Jahren dann drei Patente auf Verbrennungsmaschinen anmelden würde, zum reproduzierbaren Lichtbild kam. Und doch ist vielleicht die Entstehung der beiden frühen Verfahren (Daguerre/Talbot) ein genauso schlechter Witz der Geschichte wie der fast unbegreifliche Siegeszug des Silberplättchens Daguerres: Denn Niepce/Daguerre hatten ja an die Reproduktionen gedacht - nur war ihnen das Metall, eigentlich Druckstock, zur technischen Sackgasse geworden: Sie hatten sich die Reproduktion mechanisch vorgestellt. Talbots Begehren war durchaus beim Papier angesiedelt; er mag so sehr an Bücher gedacht haben wie an den Zeichenblock. Gerade indem er die Maschine nicht mitdachte, kam er zu jener Eigenschaft des Papiers, das die Massenproduktion auf den Weg brachte: Transparenz. Das Licht, so scheint es, suchte sich seinen Weg in den industriellen Prozeß.

Über weite Strecken ist der Text von Amelunxens aufregend, weil er Aspekte der Natur- und Geisteswissenschaften, der Wissenschafts- und Technikgeschichte, der Politik und Ästhetik übereinanderblendet, geleitet von der Nahtstelle: Bild/Schrift - „Photo/Graphie“. Diese Aufmerksamkeit ist nicht denkbar ohne die theoretischen Grundlagen Jacques Derridas. Umso erstaunlicher ist es zu verfolgen, wie von Amelunxen in den letzten beiden Absätzen in die Konstruktionsfalle der Philosophie Derridas hineingerät. Mit Derrida verachtet von Amelunxen das Phantasma der „Präsenz“.

Derrida schlitzt die Philosophiegeschichte auf, um zu zeigen, daß die „Stimme“ (und damit die Rede) mit diesem Präsenz-Phantasma behaftet ist. Dann wird anhand der Schrift bewiesen, daß es Gegenwärtiges nicht gibt: alles ist nachträglich, auch die Stimme, die Rede. Weil aber die ganze abendländische Philosophie die Stimme (weil sie vor der Schrift, also ursprünglich gewesen sei) privilegiert, fällt sie samt und sonders ins Grab der Metaphysik, das sie sich selbst geschaufelt hat.

Von Amelunxen probiert nun den theoretischen Durchmarsch Derridas an der Photographie. Habe bis zu Champollion die Hieroglyphe als „Metapher für den Traum der Umittelbarkeit, das Selbst-Sein im Augenblick“ eingestanden, so sei in dieser Funktion die Photographie an ihre Stelle getreten. Und das sei (natürlich) nichts anderes als ein abendländisches Phantasma. Über den Akt der Erkenntnis, die „Rezeption“ der Photogeschichte, versucht von Amelunxen jene Nachträglichkeit, die wir durch Derrida so sehr lieben gelernt haben, für das photo-graphische Bild zu reklamieren: „Einzig in der Rezeption durch den Betrachter und den Leser scheint das Vergangene in der Photographie wie in der Schrift als ein immer wieder Neues auf.“

Das sagt dennoch wohl mehr über jeden Akt des Erkennens als über den Träger der Information. Es mag ja Ergebnis unserer stumpfen abendländischen Einbildungskraft sein, daß wir immer wieder glauben, was um uns herum sei, wäre wirklich. Und dagegen könnte man tatsächlich sagen: Jede Wahrnehmung beruhe auf einer Verzögerung, werde bewußt und unbewußt gefiltert, bevor sie sich als Eindruck von Wirklichkeit im Wahrnehmungs- bzw. Gedächtnisapparat niederschlage. Plumper: Alles ist nachträglich.

Nur: Wenn wir das ausgesprochen haben, was können wir dann noch über die Medien sagen? Ist nicht doch das eine Medium dem, was wir für Wirklichkeit immer wieder zu halten geneigt sind, doch näher - und das andere über weit abstraktere Vorgänge vermittelt? Es stimmt schon, daß man die Ähnlichkeit von Photographien mit dem, was sie zeigen (ihr Referent), historisch begreifen, also relativieren kann. Die suggestive Kraft der Photographie jedoch, die sich ja gerade aus dieser Ähnlichkeitsbeziehung speist, wird sich dennoch nicht dekonstruktiv beseitigen lassen. Ihre Wirkung auf die menschliche Seele mag „phantasmatisch“ sein; ein Irrtum wie jener der Schriftgelehrten vor Champollion in bezug auf die Hieroglyphen - ist diese Ähnlichkeitsbeziehung nicht. Sie ist das offene Geheimnis der Photographie, das im Verborgenen fortwirkt.

Hubertus von Amelunxen: „Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot“. Nishen -Verlag, Berlin, 1988, 98Mark

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