KOMMENTAR: Schamlos
■ Vergewaltigung findet im (Gerichts)saal statt
Gerichtsverhandlungen sind in der Regel einsame Veranstaltungen. Angeklagter, Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, mal eine Schulklasse. Ausnahme: Vergewaltigungs –Prozesse. Zu Recht unterstellen auflagenstarke Boulevard –Zeitungen gesteigerte Aufmerksamkeit ihrer Leserschaft, wenn sie Schagzeilen-Mixturen aus einer männlich brutalen Mischung aus Gewalt und Sexualität brauen.
Die in Vergewaltigungsprozessen übliche psychologische Begutachtung der Angeklagten ließe sich vermutlich mit ebenso viel Recht auf ihr zahlreiches Publikum übertragen. Nichts widerlegt die Ordnung der Gerichtssäle, die die Täter auf der Anklagebank sorgsam von den „Unschuldigen“ in den Zuschauerreihen separiert, so schlagend wie das unverhohlen geile Massen-Interesse an detailierten Tatbeschreibungen und psychischen Zusammenbrüchen der Opfer. Die tuschelnd selbstgerechte Kopf- und Schwanz-ab-Mentalität in den Gerichtsfluren scheint nichts als die Kehrseite der eigenen, nach außen verlegten Vergewaltigungsphantasien, vor der man mehr Angst haben möchte als vor dem überführten Täter. So zynisch es klingen mag. Scham zeigte gestern nur ein einziger. Der Angeklagte.
Klaus Schloesser
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