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„Die Situation ist viel dramatischer als im Mai“

Der Lyriker und Essayist Lothar Herbst ist Vorstandsmitglied des polnischen Schriftstellerverbandes im Untergrund / 1982 war er zeitweilig interniert / Er hat immer noch eine Professur an der Universität Wroclaw (Breslau)  ■ I N T E R V I E W

taz: Sind die heutigen Streiks mit denen vor drei Monaten zu vergleichen?

Lothar Herbst: Die Situation ist diesmal sehr dramatisch, viel dramatischer als im Mai dieses Jahres. Damals wußten die Streikenden wohl selbst nicht so genau, ob sie mehr für höhere Löhne oder für Solidarnosc streikten. Am Schluß sagten sie dann: Wir haben zwar gekämpft, aber verloren. Die jetzige Streikwelle kann man dagegen eigentlich nur mit den Auguststreiks von 1980 vergleichen.

Und wo sehen Sie die Unterschiede zu 1980?

1980 war sehr viel Hoffnung mit im Spiel, auch Hoffnung auf die Partei. Wir setzen uns hin und reden miteinander, so war damals die Stimmung. Heute ist das ein Machtkampf. Innenminister Kiszczak hat gestern offen mit Blutvergießen gedroht. Egal, wie das jetzt ausgeht - es wird keine Verständigung geben, sondern einen Gewinner und einen Verlierer.

In letzter Zeit hat es ja eine deutliche Liberalisierung gegeben, die Zensur wurde gelockert, der PEN-Club wurde reaktiviert, neue Zeitschriften sind jetzt erlaubt. Können die Streiks die Liberalisierung zunichte machen?

Ich bin ja selbst Schriftsteller und schreibe in Polen für Untergrundverlage. Wenn wir in der Opposition nicht so aktiv gewesen wären, wäre von Liberalisierung jetzt keine Rede. Das, was jetzt offiziell gedruckt wird, drucken wir im Samisdat, der Untergrundpresse, schon lange. Liberalisierung in der Kultur spielt heutzutage kaum eine Rolle, das sieht man ja auch daran, das im Unterschied zu 1980 die Streikenden das auch jetzt nicht mehr fordern. Wer keine Druckgenehmigung hat, druckt halt im Untergrund. Jetzt geht es um mehr: um Freiheit für die ganze Gesellschaft und auch für die Wirtschaft.

Nach 1981 sind ja die meisten der Leute, die davor für eine Verständigung mit Solidarnosc eingetreten sind, aus der Partei geflogen. Mit wem soll sich die Gewerkschaft heute verständigen?

Ich sehe die Kräfte, die für eine solche Verständigung eintreten könnten, auch nicht in der Partei, eher in der Regierung. Aber das ist schwer zu beurteilen. Die Chance zum Kompromiß besteht noch. Noch will die Gesellschaft mit der Regierung reden, aber wenn die Regierung auf stur schaltet, kann es sein, daß es das nächste Mal nicht mehr darum geht, mit ihr zu reden, sondern darum, sie abzuschaffen. Jetzt gibt es noch eine Chance.

Was erwarten Sie in den nächsten Tagen? Bleiben die Streikenden hart?

Sicher werden sich die Streiks noch ausweiten. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: den Ausnahmezustand in einigen Gebieten

-oder die derzeitige Regierung tritt ab. Jaruzelski muß weg, er hat keine Autorität mehr. Eine Verständigung mit Solidarnosc kann nur mit einer neuen Equipe erfolgen.

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