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Privatsphäre zu welchem Preis?

■ Stephen Joyce, der Enkel von James Joyce, hat Briefe seiner Tante Lucia verbrannt. Caryn James berichtet von der Auseinandersetzung um die Rechte der Erben und den Anspruch wissenschaftlicher Forschung

Caryn James

Es hörte sich wie der Albtraum eines Literaturwissenschaftlers an, genau die Art von Traum, die einen beschleicht, wenn man zu viele Nächte Ulysses analysiert hat.

Wissenschaftler und Bewunderer von James Joyce trafen sich im Juni in Venedig, um Stephen Joyce, den Enkel des Autors, auf einem internationalen Symposium zu hören. Er verkündete, alle Briefe seiner Tante Lucia, der Tochter des Schriftstellers, die beinahe 50 Jahre in psychiatrischen Kliniken verbrachte und 1982 starb, vernichtet zu haben. Weiterhin gab er dem sprachlosen Publikum bekannt, Briefe an sie von Samuel Beckett, Joyces ehemaligem Sekretär, auf Becketts Wunsch vernichtet zu haben.

Aus dem Publikum erhoben sich Michael Yeats, der Sohn von William Butler Yeats, und Mary de Rachewiltz, die Tochter Ezra Pounds, um darauf zu antworten. Yeats sprach sich gegen eine solche Vernichtung aus und behauptete, alles Material, das in irgendeiner Verbindung zu einem großen Schriftsteller stehe, gehöre der Öffentlichkeit. De Rachewiltz erinnerte sich an den aufwühlenden Augenblick, als sie den Krankenbericht ihres Vaters sah. Er war für sie der Beweis, daß der Dichter zwölf Jahre lang illegal in einer psychiatrischen Klinik festgehalten worden war. Sie sagte, Lucia Joyce sei durch Stephen Joyces Handlungen Schaden zugefügt worden.

Die Literaturgemeinde ringt noch immer mit den Auswirkungen seiner Entscheidung.

Stephen Joyce, der einzige direkte Nachfahre des Autors, wurde kürzlich in einem Telefoninterview vehement und ärgerlich. Er beschimpfte die Literaturkritiker als Eindringlinge in seine Privatsphäre. Er sagte, Lucias Briefe an ihn und seine Frau hätten „keinen literarischen Wert“ und sagte weiter, er habe drei Sachen von Beckett vernichtet: ein Telegramm, eine Karte und einen Brief an Lucia, aber er werde niemals sagen, wann sie geschrieben wurden noch was in ihnen stand.

Niemand kennt den Wert der Materialien. Lucia Joyces Privatleben war seit ihrer Jugend, als ihr Vater ihre verbalen Ausschweifungen eher als Zeichen ihres Genius denn als ein Symptom für die von den Ärzten diagnostizierte Schizophrenie ansah, Gegenstand literarischer Auseinandersetzungen.

Stephen Joyces Entscheidung berührt heikle Fragen nach den gesetzlichen Rechten und nach der moralischen Verantwortung von Biographen, Wissenschaftlern und Erben. „Wo zieht man die Grenze? Gibt es ein Recht auf Privatleben?“ fragte er, die Fragen an die Wissenschaftler weiterreichend, und fügte noch hinzu, was sie als sehr unerquicklich empfunden haben mögen: „Was können sie schon tun, um mich daran zu hindern?“

Seit 30 Jahren ist er, was er „einen internationalen Beamten“ nennt, spezialisiert auf Entwicklungsländer. Die meiste Zeit davon verbrachte er in der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Paris, wo er jetzt lebt und arbeitet.

Die Vernichtung der Briefe, sagte er, sei seine Antwort auf Brenda Maddox‘ Nora: The Real Life of Molly Bloom, eine kürzlich erschienene Biographie seiner Großmutter.

Joyce bestritt Hougthon Mifflin, dem amerikanischen Verleger, und Hamish Hamilton, dem britischen Verleger, das Recht, urheberrechtlich geschütztes Material zu zitieren. Als Resultat ihrer Verhandlungen wurde ein Epilog über Lucia Her Mother's Daughter kurz vor der Veröffentlichung wieder herausgenommen. Stephen Joyces Name wurde auf seinen Wunsch hin aus den Anmerkungen gestrichen, und alle Beteiligten einigten sich, über die Entscheidung nicht weiter zu diskutieren. Obwohl weder Maddox noch Joyce sich dazu äußerten, taten es viele andere, die den Verhandlungen nahe gestanden hatten, unter der Voraussetzung, daß ihre Namen nicht genannt würden. Diese Darstellungen unterschieden sich nicht wesentlich. Wie einer beschrieb, erreichte Joyce die Streichung des Lucia-Epilogs, mit der Drohung, er werde auch bei anderen zitierten Texten den Abdruck anfechten.

Der Epilog war in frühen Druckfahnen von Nora, die an verschiedene Medien einschließlich der 'New York Times‘ zur Besprechung gesandt worden waren, enthalten. Der Epilog zeigt Verständnis für Lucia, er vermittelt Details über ihre letzten Jahre im St.Andrews Krankenhaus in Northhampton, England. Maddox schreibt, daß Lucia dort Spaß an der Beschäftigungstherapie hatte. Manchmal verlor sie sich in Phantasien an alte Freier, wie Alexander Calder. Sie war sehr produktiv im Schreiben einfacher Briefe an alte Freunde. Für Stephen Joyce beweist Maddox‘ Biographie, auch ohne den Epilog, daß „Amateur-Psychologen florieren“.

Obwohl er sagt, er habe Maddox‘ Buch nicht gelesen, wurde Stephen Joyce wütend, als er von der Betonung einer Reihe explizit erotischer Briefe zwischen James und Nora Joyce aus dem Jahre 1909 erfuhr. Die Briefe wurden in ihrer Gesamtheit 1975 in Richard Ellmanns Selected Letters of James Joyce veröffentlicht. Aber keiner der führenden Joyce-Forscher, einschließlich Ellmann in seiner Joyce-Biographie, hatte ihnen die Aufmerksamkeit geschenkt, die Maddox ihnen gibt. Sie sind ganz klar ausschlaggebend für Stephen Joyces Gefühls, daß Kritiker weit über das Ziel hinausgeschossen sind.

„Haben Sie Kinder?“, fragte er plötzlich während der Diskussion über die Briefe. Die Antwort war: nein. Der 56jährige Joyce schoß zurück: „Gottseidank, ich auch nicht! Können Sie sich vorstellen, ihnen bestimmte Sachen zu erklären? Das ist eine nette Aufgabe, wenn Ihr gesamtes familiäres Privatleben ungeschützt ist.“ Zu entscheiden, wann Privatangelegenheiten literarische Bedeutung haben, ist ein Thema, das Wissenschaftler endlos neu definieren.

Was in Joyce‘ Werk mit zum Tragen kommt, hat etwas mit Familiendynamik zu tun, sagt Christine Froula, die Englische und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Northwestern Universität lehrt und die über Joyce und Virginia Woolf schreibt. „Solche Themen wie Vater-Tochter -Beziehungen und vor-ödipale und ödipale Fragen gehen weit über die Privatinteressen der Joyce-Familie hinaus. Was auch immer das Material über Lucia enthielt, es könnte Licht auf solche Fragen geworfen haben.“

De Rachewiltz, 63, die ungefähr sechs Wochen im Jahr als Kuratorin im Ezra Pound Archiv der Beinecke Bilbiothek an der Yale Universität verbringt, gab eine persönlichere Antwort: „Lucia ist eine Schlüsselfigur, denn sie scheint eine sehr wichtige Rolle in Joyces Leben gespielt zu haben“. Ähnlich könnte das Beckett-Material einfache Geburtstagsgrüße enthalten haben und dennoch wertvoll für die Joyce-Philologie gewesen sein.

In den dreißiger Jahren war Lucia von romantischen Gefühlen zu Beckett besessen, der diese zwar niemals erwiderte, aber immer ein treuer Freund war. Deidre Bair, der die einzige umfassende Biographie über Beckett schrieb, sagte, das Material, das Joyce vernichtet habe, sei „wahrscheinlich von enormer Wichtigkeit in bezug auf das Verhältnis von Samuel Beckett und Lucia Joyce“ gewesen.

Joyce sagt, er habe Beckett gefragt, was er mit den Unterlagen machen soll, und der Autor antwortete: „Vernichte sie!“ Jedoch meinte Bair: „Beckett sagt auf die Art und Weise 'Vernichte meine Briefe‘, wie andere Leute sagen 'Einen schönen Tag noch‘. Sie sollten wissen, daß er es nicht immer so meint.“

Aus: Herald Tribune, 17.8.1988

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Cornelia Jörgens

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