Seit‘ an Seit‘ mit dem Chemie-Kapital

Beim morgen beginnenden Chemie-Gewerkschaftstag wird vor allem der Schulterschluß mit der Chemieindustrie eingeübt: Ob es um die Chemiepolitik, um Gentechnik oder Umweltschutz geht, vor allem müssen die Schornsteine rauchen / Innergewerkschaftliche Kritiker haben nichts zu bestellen  ■  Von Maria Kniesburges

Berlin (taz) - Wenn morgen die 425 Delegierten der IG Chemie, Papier, Keramik zu ihrem 13.Ordentlichen Gewerkschaftstag in Karlsruhe zusammentreten, dann darf aus den Vorstandsetagen der Chemieriesen von BASF bis Hoechst zufrieden auf dieses Ereignis geblickt werden. „Den Kurs der Vernunft fortsetzen“ lautet das Motto, das IG-Chemie-Chef Rappe seinem Geleitwort zu den jüngst veröffentlichten 262 Anträgen an den Gewerkschaftstag vorangestellt hat. Und was für ihn Vernunft heißt, daraus hat Rappe noch nie einen Hehl gemacht: Seit‘ an Seit‘ voran mit der Chemieindustrie. „Partnerschaft, Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit“ sind die Stichworte, die Rappe aufs Neue für sich und seine Industriegewerkschaft ausgibt. Das um so nachdrücklicher, als es auf diesem Gewerkschaftstag schwerpunktmäßig um Industrie- und Chemiepolitik gehen soll.

In dem Leitantrag zur Chemiepolitik, der den Delegierten zur Annahme empfohlen ist, wird das Ziel künftigen gewerkschaftlichen Strebens auf den Punkt gebracht: „Die Chemiepolitik muß wieder Vertrauen für den Erhalt und Ausbau chemischer Produktionen und damit verbundener Wirtschaftsbereiche erreichen.“ Zwar ist von „ökologischer Verantwortung“ der Industrie die Rede, in die Pflicht genommen aber wird sie nicht. Zumindest nicht in die alleinige. Die Gesellschaft hat solidarisch mitzuwirken und mitzuzahlen. Dem Staat wird der Zeigefinger „Wettbewerbssituation“ entgegengehalten: „Staatliche Rahmenregelungen, Vorschriften, Auflagen und Genehmigungen dürfen nicht einseitig nur die chemische Industrie betreffen, sie sind branchenübergreifend weiterzuentwickeln.“ Allerdings sollen Gewerkschaften und betriebliche Interessenvertreter fürderhin besser informiert werden, stärker mitwirken und mitbestimmen dürfen. All das unter der Maxime: „Wir gehen davon aus, daß eine Sicherung der chemischen Industrie in der Bundesrepublik Deutschland gemeinsam von den Sozialpartnern betrieben werden muß.“

Auch die Biotechnik - insbesondere die Gentechnik - wird vom Hauptvorstand der IG Chemie vor allem als „Chance für einen attraktiven Industriestandort Bundesrepublik“ begriffen. So wertet der Antrag „Biotechnologie und Industriepolitik“ eine ansehnliche Palette von Nutzungsbereichen für die Gentechnik als „vertretbar und zu fördern“: neue Verfahren für die chemische Stoffumwandlung; neue bzw. bessere Nutzpflanzen in der Landwirtschaft, die unter Umständen als „nachwachsende“ Rohstoffe in Industrie und Energieversorgung genutzt werden können; neue Methoden und Verfahren für die medizinische Diagnostik und Therapie. Nicht zuletzt weiß der Hauptvorstand der IG Chemie auch an die segensreiche Wirkung der Gentechnik zu erinnern, sei diese für die Entwicklung neuer Umweltverfahrenstechniken zu befördern.

Eine Grenze jedoch soll bei der „Verwendung der Gentechnik zur Manipulation des menschlichen Erbguts und gar zur Menschenzüchtung“ gesetzt werden, hier fordert der Antrag ein gesetzliches Verbot. Will der IG-Chemie-Vorstand als Antragsteller noch „scharfe Kontrollen“ für den Bereich der Gendiagnostik, so ist es mit der Zögerlichkeit hinsichtlich der Freisetzung genmanipulierter Lebewesen in die Natur schon wieder vorbei. Hier will man lediglich noch eine „äußerst sorgfältige Prüfung“. Folgerichtig mündet der Antrag Biotechnologie in dem Appell: „Die Industrie wird aufgerufen, sich der Chancen bewußt zu sein, die sich aus einer frühzeitigen Kooperation mit den Gewerkschaften und ihren Betriebsräten ergeben.“

Schützend vor die vollen Kassen der Chemieindustrie stellt sich der Hauptvorstand der IG Chemie auch in seinem Antrag zum Komplex Umweltschutz. Zahlen sollen den Schaden grundsätzlich erstmal alle, auch die sich kaum noch davor retten können, geschweige denn ihn verursacht haben: „Industrie, Staat, Kommunen sowie die Bürger“. Und bevor in dem Antrag die Forderungen zum betrieblichen bis europäischen Umweltschutz aneinandergereiht werden, wird klar gemacht, daß auch der Umweltschutz seine klare Grenze hat: „Umweltschutzforderungen, die auf Ausstieg aus der Industriegesellschaft angelegt sind, werden von uns nicht unterstützt.“ Ganz im Sinne des „ausgewogenen Verhältnisses zwischen Ökonomie und Ökologie“, auf welches die IG Chemie zu achten verspricht, werden „zügig Standorte für Sondermülldeponien“ gefordert, „um eine Behinderung unserer Industrieproduktion zu vermeiden“.

Dem glatten Schulterschluß mit der Chemieindustrie, der auf dem bevorstehenden Gewerkschaftstag neue Siege zu feiern droht, steht ein kräftiger gewerkschaftlicher Kahlschlag gegen Kritiker in den eigenen Reihen gegenüber. Als Rappes Vorgänger Hauenschild den Delegierten des Mannheimer Gewerkschaftstages 1980 zurief: „Arbeitgeber und Arbeitnehmer haben die Phase des unversöhnlichen Gegeneinanders in einem schmerzlichen Lernprozeß überwunden!“, da war er längst darangegangen, die Kritiker in den eigenen Reihen zum Schweigen zu bringen. Sein Konzept: eine „mehrheitsstabilisierende Personalpolitik“ auf allen Ebenen der Organisation. Die Reihe innergewerkschaftlicher Maßregelungen ist beträchtlich: Über die Kündigung von Funktionären, Ausschlußverfahren gegen offensive Betriebs- und Vertrauensleute bis hin zur rigiden Unterbindung kritischer Bildungsarbeit reicht das erprobte administrative Instrumentarium. Und als die aufmüpfige IG Chemie-Verwaltungsstelle Hann. Münden, gegen die schon Hauenschild 1979 per Kündigung des Geschäftsführers Patschkowski zu Felde gezogen war, sich partout nicht auf Linie bringen lassen wollte, da setzte Hauenschild -Nachfolger Rappe dem Ganzen per Zerschlagung der Verwaltungsstelle ein Ende. Zwei Drittel der Hannoversch -Mündener Mitgliedschaft wurden Nachbar-Verwaltungsstellen zugeteilt.

Der jüngste heftige Coup aus der Gewerkschaftszentrale gegen Vertreter eines offensiven Gewerkschaftskonzepts wird auch den morgen beginnenden Gewerkschaftstag beschäftigen wenn auch aufgrund der stabilisierten Mehrheit wohl ohne Konsequenz. Wegen gewerkschaftsschädigendem Verhalten, syndikalistischer Bestrebungen und fortgesetzten Opponierens gegen die „Beschlüsse der kompetenten Gremien der Organisation“ schloß der Hauptvorstand der IG Chemie am 27.Juli die gesamte Vertrauenskörper-Leitung (VKL) des Pharmariesen Boehringer-Mannheim aus. Letzter Tropfen auf dem heißen Stein, der die umgehende Einleitung des Ausschlußverfahrens nach sich zog: die gescheiterte Wahl der außerbetrieblichen Gewerkschaftsvertreter in den Aufsichtsrat bei Boehringer-Mannheim. Nach einem monatelangen Hin und Her um die Aufsichtsratskandidaten, die sich die Boehringer-Vertrauensleute nicht aus der Hannoveraner Chemie-Zentrale diktieren lassen wollten, fielen beide IG-Chemie-Kandidaten bei der Wahl durch. Fatale Konsequenz: Die Mandate gingen trotz einer Mehrheit von IG -Chemie-Stimmen an die DAG und den „Verband angestellter Akademiker“. Ein gewerkschaftspolitisch zwar kurioser Vorgang, aber in der IG Chemie auch kein einmaliger. Als sich das gleiche Wahldesaster bei der Schering -Aufsichtsratswahl in West-Berlin zutrug, blickte der IG -Chemie-Hauptvorstand gelassen darüber hinweg, hatte doch dort seine eigene Mitgliederklientel aus der rechten Riege die Wahl verpatzt. Und so wird auch in der Hannoveraner Gewerkschaftszentrale kein Hehl daraus gemacht, daß der spektakuläre Rausschmiß der elf Boehringer-Vertrauensleute darunter acht Betriebsräte, zwei davon freigestellt - zum mehrheitsstabilisierenden Aufräumprogramm gehört. Denn, das hat Rappe-Stellvertreter Schultze zum Fall Boehringer gleich erklärt: „Ein zweites Hann. Münden wird es in Mannheim nicht geben.“ So erfolgreich die Boehringer in ihrer Betriebsarbeit sind - in den letzten Jahren konnte die Mitgliederzahl im Betrieb um ein stolzes Drittel erhöht werden-, so sehr gingen dem Hauptvorstand ihre Positionen in Punkto 35-Stunden-Woche, Ausstieg aus der Atomenergie, Umweltschutz und Chemiepolitik oder auch im Bereich der Betriebsarbeit an den gewerkschaftlichen Nerv.

Das Boehringer-Management darf sich die Hände reiben. Ein effektiverer Schlag gegen die gewerkschaftliche Interessenvertretung im Betrieb wäre ihm wohl kaum gelungen. Und auch auf den Gewerkschaftstag wirkt sich der Rausschmiß gleich praktisch aus, waren doch zwei der Rausgekanteten zu Gewerkschaftstag-Delegierten gewählt worden. Wenn die IG -Chemie-Mehrheit nun das Zusammenrücken von IG Chemie und Chemieindustrie festklopfen wird, werden sie darüber nichts mehr abzustimmen und auch nichts mehr zu sagen haben.