: Machtlos gegen Vorurteile
Vojislav Seselj steht auf und gibt das Startzeichen: „Ustascha go home“, brüllt er durch den überfüllten Vortragssaal zum Podium hinauf, und prompt stimmen ein paar dutzend Zuhörer ein und krakeelen im Chor: „Ustascha, Nazi, go home!“ Der Angesprochene wehrt sich nicht, steigt schweigend vom Podium. Branko Horvat, der hier aus seinem Bestseller Die Kosovo-Frao vorlesen wollte, ist sichtlich betroffen: Er ist Jude und entging als Kind nur knapp der „Endlösung“ durch die jugoslawischen Ustascha -Faschisten.
Doch der Anführer der Protestierer - 1984 wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten selbst Opfer der jugoslawischen Politjustiz und mit Berufsverbot belegt - freut sich: „Wir brauchen Horvat hier in Belgrad nicht“, sagt er zu mir, „aber du verstehst das ja nicht.“ Nein, ich konnte tatsächlich kaum glauben, was ich da am 26.April im Belgrader Studentenzentrum abspielte und daß ausgerechnet Seselj, der Oppositionelle, der nur aufgrund weltweiten Protestes nach 22 Monaten aus der Haft entlasen wurde, den Juden als Nazi beschimpfte. Seit diesem Vorfall hat Horvat es aufgegeben, in Serbien aus seinem Buch zu lesen, von dem trotz Lieferboykott in den südlichen Teilen Jugoslawiens über 60.000 Exemplare verkauft wurden.
Worum geht es dem Wirtschaftsexperten, der als Anwärter auf den Wirtschaftsnobelpreis gehandelt wird, in seinem derart angefeindeten Buch? In nüchternen Berechnungen versucht er die drei häufigsten Vorurteile gegen die albanische Minderheit zu widerlegen. Denn selbst in Kreisen jugoslawischer Intellektueller wird immer wieder behauptet, die Albaner seien faul und für ihre miese Situation selbst verantwortlich - sie setzten so viele Kinder in die Welt um ein ethnisch reines Kosovo zu erreichen -, und sie vergewaltigen serbische Frauen, um die Serben aus dem Kosovo zu vertreiben. Zum ersten Mal hat Horvat nun vorgerechnet, daß sich die ökonomische Situation in Kosovo, das schon zu Zeiten der Monarchie ein Armenhaus war, sich unter sozialistischer Herrschaft noch weiter verschlechtert hat. Er weist nach, daß der Kosovo, der 1952 viermal ärmer war als Slowenien, 1984 bereits im Verhältnis 6 zu 1 hinter der Nord-West-Ecke des Vielvölkerstaates zurücklag. „Diese Entwicklungsunterschiede sind vergleichbar mit denjenigen, die zwischen England und Südafrika liegen.
Doch Kosovo blieb nicht nur im Verhältnis zu Slowenien zurück, sondern auch zu allen anderen Regionen Jugoslawiens. Ausgedrückt in Preisen (1972) lag das Sozialprodukt Kosovos im Verhältnis zum übrigen Jugoslawischen Durchschnitt bei 43 Prozent, 1984 aber nur noch bei 26 Prozent“, schreibt Horvat in seinem Buch. Die Gründe: falsche Investitionen und Ausbeutung der Bodenschätze der Provinz durch andere Republiken.
Über die sogenannte „Nationalitätenwaffe“, der hohen Geburtenrate in Kosovo, schreibt Horvat: „Der Hintergrund für die hohe Geburtenrate läßt sich vor allem auf zwei Faktoren zurückführen: das niedrige Bildungsniveau der Frauen und ihr geringer Anteil an der Erwerbsarbeit. Für beide Faktoren haben wir in Kosovo Zahlen, die sich nirgendwo sonst in Europa noch finden lassen. Die Beschäftigungsrate der Frauen in Kosovo ging von 1952 bis heute auf die Hälfte zurück, was insgesamt noch einen Anteil von 15 Prozent ausmacht. Sogar in der benachbarten Volksrepublik Albanien liegt der Beschäftigungsanteil der Frauen bei 30 Prozent, ganz zu schweigen von den anderen jugoslawischen Republiken.
Solange die Frauen aber ausschließlich ans Haus gebunden und damit von den patriacharlichen Strukturen völlig abhängig sind, steigt die Geburtenrate. Dazu kommt die hohe Arbeitslosigkeit in Kosovo, die in manchen Dörfern bei 30-50 Prozent liegt. Dies führt dazu, daß die Familie die Funktion der Sozialhilfestelle übernimmt und deshalb im Gegensatz zum gesamten übrigen Europa die großfamiliären Strukturen beibehalten oder sogar ausgebaut werden. Deshalb appelliert Horvat an die jugoslawische Bevölkerung: „Helfen Sie mit, die Wirtschaftslage in Kosovo zu verbessern und das Problem der hohen Geburtenrate löst sich von selbst.“ Horvats Fazit ist für die jugoslawische Gesellschaft und die politische Führung wenig schmeichelhaft. Man sehe Kosovo „wie eine Kolonie“, deren Bevölkerung nicht gefragt wird und über deren wirtschaftliche Entwicklung man sich keine Gedanken mache. Es gäbe kein soziologisches Material, Meinungsumfragen und ethnologische Untersuchungen seien in Kosovo nie durchgeführt worden. „Obwohl die Albaner seit Jahrhunderten mit uns leben, sind sie für uns ein fremdes Volk geblieben“, meint Horvat.
Doch selbst Leute wie Vojislav Seselj, immerhin ein prominenter marxistischer Regimekritiker will die Untersuchungen Horvats nicht wahrhaben. Er glaubt einfach nicht, daß es in Kosovo eher weniger Vergewaltigungen als sonst im Land gibt und die Albaner diese frauenverachtenden Attacken eben nicht als „politische Waffe der Einschüchterung sehen“. Es wird in Jugoslawien viel gegen Horvat geschrieben, doch niemand nimmt auf seine Untersuchungen direkt bezug. Statt dessen wird er in der serbischen Presse pauschal als Albanerfreund angepöbelt.
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