: Utopie ohne Revolution
■ 10 Jahre Alternativbewegung / taz-Serie Teil 1
Als vor zehn Jahren die ersten Leute sich anschickten, der herrschenden Ökonomie ihre eigenen Vorstellungen vom Arbeiten und Leben entgegenzustemmen, waren die Hoffnungen auf alsbaldige Änderung der Verhältnisse groß. Heute müssen wir uns eingestehen, daß der Kapitalismus fester im Sattel sitzt als wir dachten und sich von den kleinen Blüten der Alternativbetriebe gar nicht kratzen käßt. War alles umsonst - oder wofür war's gut? Über verlorene Utopien sollte Claudia von Braunmühl, Mitglied im Vorstand von Netzwerk, schreiben.
nix
Zum Utopieverlust soll ich schreiben - aber ich habe gar keine verloren.
Nicht, weil ich nie eine hatte. Es ist die alte, die es immer noch tut. Sie rührt von der Kritischen Theorie, wie ich sie verstand.
Daß die Menschen über Techniken verfügen, die es ihnen erlauben, viel Leid und Last des Lebens auszuräumen. Daß sie einen Reichtum geschaffen haben, der, richtig verteilt, für alle reicht. Daß Befreiung von Zwängen und Gestaltung von Lebensräumen in einem Ausmaß möglich ist wie nie zuvor in der Geschichte und daß wir das nun tun sollten. Daß vielleicht, wenn alles objektive Potential ins Leben der Menschen geholt ist, noch immer nicht alle vollends glücklich sind. Daß dies dieses unbeweisbare „Restriskio“ aber gar nicht interessiert, weil es jetzt um die Beseitigung der beweisbaren Quellen von Leid geht.
Die Utopie dieser Möglichkeit wurde vor 20 Jahren mit dem Wort Revolution belegt. Die Revolution, das war der Bezugspunkt von allem „historisch Richtigem“. Revolutionäre Theorie, revolutionäre Praxis. Wir haben sie so geliebt, die Revolution! (Cohn-Bendit) Gar nicht wahr. Ich habe sie nie geliebt. Meine Bilder von ihr waren blutige. Die Französische Revolution und ihre unendlichen Grausamkeiten. Die Deutsche Revolution 1918. Ich las die Protokolle des 1. Arbeiter- und Soldatenrates und war entsetzt. Diese hohlen, herrischen Machos und ihre panische, zu allen Tricks greifende Angst vor der zu befreienden Masse. Was war von ihrer Revolution zu erwarten? Das in den historischen Umbrüchen gesellschaftlich Erkämpfte, war es das Leid wirklich wert? Hätte das Neue nicht auch anders hergestellt werden können? Wie hatte frau sie sich um Himmelswillen heute vorzustellen, die Revolution?
Als Gegen-Gewalt. Ja schon, am Ende sind aber doch beide Gewalt. Gegengewalt, das läßt sich affektiv nicht lange leben, ohne selbst gewalttätig zu werden. Und nach der Revolution? Die Diktatur des Proletariats. Vorübergehend und von der Mehrheit getragen, aber eben doch Diktatur. Sie würde ganz anders sein als bisherigen Diktaturen. Wie das? Konkret erlebte ich die Strenge unserer herzlosen und bündnisunfähigen Gewißheiten. Auch meiner. Und Szenen der „revolutionären Praxis“, die ich nicht mitfühlen konnte. Der damalige hessische Kultusminister z.B. wird bei einem lautstarken Teach-in länger nicht rausgelassen. Er soll sich das anhören. Gegen-Gewalt, vergleichsweise harmlose, und doch: die würdelose Angst des alten Mannes, die StudentInnen als kollektiver Käfig. Da lag kein Versprechen für die Zukunft drin.
Ich bin auch nie, bis heute nicht, mit der Gewalt bei Demonstrationen klargekommen. Vietnam-Krieg z.B., Steine gegen Amerika-Haus und Banken. Per Kopf vielleicht, berechtigter Ausdruck von Empörung, Durchbrechen des Medien -Schweigens. Gefühlsmäßig war ich den Werfern nie nahe. Ich mißtraute der Austauschbarkeit ihrer Einsatzorte und fürchtete ihr Kampfgehabe.
Nein, ich habe die Revolution nicht geliebt. Ich habe für mich und meine Utopie in ihr keinen Ort gefunden.
Wie für viele meiner Generation begann auch meine bewußte politische Biographie mit der Lektüre des Tagebuchs der Anne Frank. Warum spielen Menschen mit? Warum übernehmen sie im öffentlichen Leben, in den Familien, tragende Rollen im Szenario der Unterdrückung? Wie müssen die Dinge beschaffen sein, was muß geschehen, daß sie aufhören, dies zu tun, daß mehr Raum für ihre anderen Seiten bleibt und daß sie Mut fassen, ihn auszufüllen? So gefragt, und das waren und sind meine Fragen, ist Politik nicht das große Raisonnieren, das große Drähteziehen, das Stellen der großen Machtfrage. Das ist sie vielleicht auch. Aber viel eher ist sie, was diese selbst sind, nämlich die Summe von Schweigen und Reden, von Handeln und Verweigern im ganz normalen 24-Stunden-Tag an den Orten unserer Verbindlichkeiten, unserer Lieben, Freundschaften, Berufe.
Gesellschaftliche Strukturen existieren ja nicht einfach als solche. Sie werden reproduziert, täglich, von allen. Oder eben auch nicht. Konsens verweigern. Die Macht der Rädchen im Getriebe entdecken und nutzen. Die Funktionsweise des Ganzen benennen, die Auswirkungen im einzelnen aufzeigen, konkret, unbeirrt. Und: Nicht-Mitspielen. Immer öfter nicht Mitspielen.
Vielleicht ist das der strategische Teil meiner Utopie, daß die Summe des alltäglichen Widerstands die große Revolution entbehrlich machen könnte. Zivilcourage als die eigentlich revolutionäre Tugend? Ehrlich gesagt, ich glaube, sie würde ganz schön weit reichen.
Ende der siebziger Jahre jedenfalls stand fest, alle Kapitalismus- und Imperialismuskritik hatte uns im Auffinden des „revolutionären Subjekts“ nicht sonderlich treffsicher gemacht. Weder die ArbeiterInnen in den Metropolen noch die BäuerInnen in der Peripherie verhielten sich erwartungsgemäß. Die Fragen des Zugewinns an gesellschaftlicher Stärke, der öffentlichen Durchsetzung von Verweigerung, der Blockade unterdrückender und der Herstellung Lebensraum gebender Strukturen, diese Fragen verloren ihre abgeleiteten Antworten und ihre theoretisch beglaubigten Perspektiven.
Mehr nicht. Utopie war davon gar nicht berührt. Wir hatten bloß unsere eigenen Theorien mißverstanden. Zum Entziffern der Funktionsgesetze der gegenwärtigen Gesellschaft und zum Auffinden der Bruchstellen taugten sie sehr wohl, zum Entwerfen fertiger Landkarten allerdings herzlich wenig. Der Weg war neu zu suchen, nicht das Ziel.
Den Aufbruch der späten siebziger Jahre habe ich immer als das verstanden, als, um mit Karle zu sprechen, eine Form, in der der Widerspruch sich bewegt, der Widerspruch nämlich zwischen dem Verlust klarer Perspektiven und der Weigerung, unterdrückende gesellschaftliche Zustände deswegen einfach hinzunehmen.
Die ganze Projektwelt, das ist für mich eine praktische Form des Suchens nach Wegen und nach Trägern von Veränderungen, wo die im Textbuch vorgesehenen alle nicht so richtig funktionieren. Und ein Stück Antizipation des Zieles einer menschlicheren Gesellschaft in den Such-Formen selbst, zwecks besseren Durchhaltens und höherer Glaubwürdigkeit.
Nun habe sie ihre 10 und drüber und drunter Jahresfeiern. Resümee-Stimmung macht sich breit und gelegentlich eine merkwürdige Katerstimmung. Warum eigentlich? Kein Aufbruchstempo läßt sich auf Dauer stellen, und die große Eindeutigkeit kann immer nur am Anfang stehen, wo die einzuschlagende Richtung noch am Ausmaß der erlittenen Unterdrückung ablesbar ist. Unterwegs wird es schon komplizierter. Weil viele Dinge sich in uns selber reingefressen haben, weil Autonomie zwar wunderbar, aber Abhängigkeit nicht nur unangenehm ist, weil unsere Veränderungsbedürfnisse, -fähigkeiten, -prioritäten unterschiedlich ausgebildet sind, und, und, und.
Außenkontakte bringen nicht unbedingt die in ihnen gesuchte Klarheit. Kaum läßt die Gesellschaft sich ein bißchen auf die Bewegunng ein, was man/frau ja wollte, wird's uneindeutig, was man/frau nicht wollte. Wir stehen mehr oder weniger betreten auf dem Schlauch und fragen uns: Wer hat nun wen rumgekriegt, die uns oder wir sie?
Der Staat verhält sich leider auch nicht eindeutig, klaut hier, haut da. Und was ihn beeinflußbar macht, nämlich massenhafter Druck oder zumindest die Sorge davor, haben wir am allerwenigsten in der Hand. Diese Gewißheit, wo genau Unterdrückung, Entfremdung, menschenfeindliche Lebensumstände in Gegenwehr umschlägt, diese Gewißheit haben wir nun mal nicht mehr. Wohl aber die Gewißheit von dieser Dialektik von Druck und Bewegung.
Die neue Uneindeutigkeit, die nun schon zweite, spricht sie gegen die Utopie von der möglichen Realisierung historisch gegebener Potentiale? Finde ich überhaupt nicht. Für Weiter -Verweigern und für Weiter-Suchen spricht es. Für konkretes Nicht-Mitspielen, wo vielleicht nicht die Alternativen, aber doch die Mängel offen liegen. Das allein schon schafft neue Situationen.
Suche nach Wegen der Vermittlung und Verstärkung von Kritik und Widerstand. Was in den letzten Monaten in Sachen Verschuldung, IWF und Weltbank gelaufen ist, war doch zum Beispiel schon mal gar nicht schlecht. Wie sich zu den kompliziertesten Tatbeständen trotz aller Orbigkeit Wissen und Empörung breitgemacht haben und, wie es scheint, auch nach Abreise der Bänker die Sache nicht auf sich beruhen lassen wollen, das war und ist doch toll.
Suchen auch nach Verständigungen untereinander, die uns vor Überforderung und Ermüdung und vor dem Zyklus radikale Jahre und ermattetes Zurücksinken in die statistischen Normallagen dieser Gesellschaft ein wenig schützen.
Stimmt, den Kapitalismus haben wir nach wie vor. Wenn ich es richtig sehe, ist er gerade dabei, sich nun endlich weltweit einzurichten und sich's südwärts bequemer zu machen, indem er dort Land für Land von IWF und Weltbank erst mal ordentlich aufräumen läßt. Bekömmlicher ist er nicht geworden, auch wenn die Alternativen nicht auf der Hand und nicht auf der Straße liegen.
Um so gefährlicher sind die Überanstrengungen der Veränderer. Für viele Gratifikationen, die das herrschende System zu vergeben hat, haben wir nur unzulängliche „funktionale Äquivalente“ gefunden. Darüber gibt es in der Szene viel zu klagen.
Geld zum Beispiel hat sie abzüglich ein paar linker Erben und gut dotierter Alt-68er schon mal nicht so viel. Das war in den Blütezeiten von Aufbruchstimmung und Kritik des Konsumerismus vorübergehend kein so großes Problem. Aber der Normallage entspricht das eben doch nicht. Da ist denn auch zunehmend von Opfer und Selbstausbeutung die Rede und „wir sind nicht mehr bereit, unbezahlte Arbeit zu leisten“. Da sind schon entscheidende Stichworte der Unhaltbarkeit beisammen. Wer lebt schon freiwillig als Opfer? Und haben wir das Aufdecken von Ausbeutung wirklich im wesentlichen deswegen gelernt, um sie, bestens informiert, gegen uns selber anzuwenden? Finanzierungsanträgen bei Netzwerk zum Beispiel, höheren als vordem, wird immer häufiger der Verweis auf erlittene Einschränkungen, Zumutungen, Demütigungen beigegeben, die nun einmal ein Ende haben müssen.
In den letzten Jahren gab es zum Teil erbitterte Diskussionen um „ehrenamtliche“ (saublödes, borniertes Wort) politische Arbeit, die bei Bezahlung an Glaubwürdigkeit angeblich drastisch verliert. Mit einer Inbrunst geführt, die an religiöse Bewegungen erinnert. Tatsächlich kenne ich keine Bewegung, die zum Verzicht auf im Prinzip erreichbaren Konsum und zivilisatorische Leistungen aufruft und dabei ohne religiöse Überhöhung, bzw. religiöse Rückgriff auskommt.
In der Normalität bürgerlicher Arbeitsorganisationen ist persönlicher Gestaltungsraum an Hierarchie gebunden und nimmt die Form von Anordnungsbefugnis an. Genau dies soll im Kollektiv und alternativen Zusammenhängen anders sein. Gleichberechtigtes Mitbestimmen und Verantwortung übernehmen, Konsensprinzip, keine Verfestigung arbeitsteilungsbedingten Status- und Einflußgefälles etc. Faktisch ist das Neu-Aushandeln und Aushalten menschlicher Entfaltung zuträglicherer Strukturen fürchterlich schwierig. Die einen sagen: Nichts ist gelungen. Andere beschreiben eindringlich die unerträgliche und unkreative Ellenbogenkultur informeller Führung. In Frauenzusammenhängen ist die Rede vom „Terror der Schwäche“ bzw. „Terror der unstrukturierten Gruppe“. Die Suche nach Gestaltungsräumen mag erlahmen oder sich wieder in der Normallage bürgerlicher Geordnetheit Verwirklichung zu schaffen suchen. Gänzlich auf solchen Raum verzichten werden nur wenige wollen und doch auch nicht immer den Preis zermürbender Kämpfe zahlen.
Die Sphäre der Arbeit, des gesellschaftlichen Engagements ist auch ein Ort der Vergabe von Anerkennung. Wie immer gehaltvoll die Tätigkeit an sich, daß sie Anerkennung gewährt, ist ein wichtiger Bestandteil der Lust daran. Die Szene indes verfügt kaum über verläßliche Mechanismen der Vergabe von Bedeutung, auf jeden Fall über keine formalisierten und damit zufällig berechenbaren. Die „neuen Werte“ von Basisnähe, bescheidener Lebensführung, Verbindlichkeit im Projekt oder ähnliches konkurrieren mit dem Reiz, der von den Fluren der Macht und opulenten Buffets nun mal ausgeht. Zumindest ist doch bemerkenswert, daß die gelegentlichen Adoption von Szene-Menschen in die formalen, meist erheblich betuchteren Strukturen in der Regel umstandslos als (lang entbehrte?) Anerkennung genossen wird.
Da bleiben viele Fragen, auch an uns selber, offen. Das ist noch lange kein Grund, die Segel zu streichen. Im Gegenteil, es kann doch nur heißen, genau und geduldig hinzugucken. Vielleicht passiert schon dabei etwas. Was wir keinesfalls tun dürfen, ist, einander die Ermüdungserscheinungen um die Ohren schlagen. Selbst, wenn die Hälfte der „neuen Bedürfnisse“ mühselig zurückgestaute alte sind, auch dann helfen Anklage und Schuldzuschreibung schwerlich. Wir wollen ja nicht nur, wenn's geht, bitte schön, das System, wir wollen auch unsere Lernprozesse überleben.
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