Eine Frau mit Eigenschaften

■ Dr. Ing. Ayla Neusel ist Vizepräsidentin der Gesamthochschule Kassel und aussichtsreiche Kandidatin für das Präsidentenamt. Sie wäre die erste Präsidentin an einer Hochschule der Bundesrepublik

Nichts liegt näher“, sagt sie und lächelt mich charmant und eindringlich an. Ich notiere: sehr blaue Augen. Sehr direkt. Dabei vollendet distanziert.

„Ich finde es zwingend, daß ich mich bewerbe.“ Kein Zweifel, sie soll Präsidentin werden. Dr.Ing.Ayla Neusel, zur Zeit wiedergewählte Vizepräsidentin an der Gesamthochschule Kassel. Sie wäre die erste Präsidentin an einer Hochschule in der Bundesrepublik. Am 7.Dezember sind die Wahlen. Sie tritt gegen zwei Männer an. Einer davon ist der jetzige Präsident der Gesamthochschule Kassel, Franz Neumann, der andere der Hochschulforscher Ulrich Teichler. Alle zählen mehr oder weniger zur Linken. Seit 20 Jahren ist sie mit fast nichts anderem als mit der Hochschule beschäftigt. Seit der Studentenbewegung betätigt sie sich dort „praktisch, planerisch, politisch“.

Sie hat die Gesamthochschule Kassel mitgegründet und forscht im Wissenschaftlichen Zentrum für Berufs- und Hochschulforschung seit zehn Jahren über die Hochschule.

Sie kennt sich aus. Sie hat jede Menge Erfahrung mit leitenden Stellungen. Und sie ist Expertin für den Hochschulbereich. Ich habe sie im Zusammenhang mit der Offenen Frauenhochschule kennengelernt. Sie saß links neben mir auf einer Veranstaltung der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Frauenforschung, die sich dort vorstellte und der sie angehört. Eine elegante schöne Dame. Später diskutierte sie mit der Vorbereitungsgruppe und einigen Frauen über eine mögliche Veränderung der kommenden Frauenhochschule. Sie leitete ein Seminar über die Utopie einer Frauenuniversität. Sie strukturierte die Diskussion mit kluger Intensität, selbstbewußten Einsichten, die frei sind von Pathos, Show, Übertreibung. Bezogen auf die rückschrittliche „Tradition“, die auch die Gesamthochschule Kassel wiedereingeholt hat, sagt sie über ihre Arbeit: „Wir konnten nicht schneller laufen, sonst wären wir schneller gelaufen.“

Vielleicht verkörpert sie eine ganz besondere Art neuer Frau. Arbeit und Politik bedeuten für sie „ganz große Begeisterung“. Da ist nichts mit Aufopferung und Anstrengung. Man merkt ihr an, daß ihr der Diskurs Spaß macht, das Nachfragen, Nachhaken, Neudenken. Dabei kann sie ruhig und freundlich bleiben: „Kritikfähigkeit bedeutet nicht, daß man alles mies macht. Ich habe eine richtige Allergie dagegen entwickelt - da wird mir schlecht -, ich ziehe eine hoffnungsvolle Stimmung bei weitem vor.“

Ihr Konzept der Hochschule von morgen ist demnach folgerichtig auf Veränderung ausgerichtet. Trotz mancher Rückschläge im Hochschulbereich setzt sie auf die Reformuniversität. In ihrer Rede zur Wiederwahl als Vizepräsidentin nennt sie programmatische Punkte: von der Hochschulautonomie über die Dezentralisierung zur „Ausbildung einer intellektuellen Widerstandskultur“ als Aufgabe der Forschung und der Wissenschaft.

Heute, sagt sie, „können wir damit umgehen, wenn aus dem Fortschritt Rückschritt wird und wenn Rückschritt Fortschritt ist“. Deswegen, so plädiert sie, sollte „bis in die Ursprünge der Sechziger-Bewegung (Hochschule in der Demokratie 1961) und bis in die Ursprünge der deutschen Universität (Humboldt 1810) zurückgegangen werden, um voranzukommen“.

Wir sind zusammen eine Kleinigkeit essen gegangen. Ihre nächste Pflicht beginnt in einer halben Stunde. Jetzt ist es zirka halb sieben am Abend. Sie trägt ein dunkles Kostüm mit einer beige-rot gestreiften Bluse, dazu schwarze Strümpfe und Pumps. Sie ist Anfang fünfzig, mit zarter, heller Samthaut. Sie hat viel vür Frauen gemacht, aber: „Ich möchte micht nicht so einseitig wiedergegeben sehen.“ Also keine Feministin? In ihrer programmatischen Rede ist der sechste und letzte Punkt der Frauenfrage in der Hochschule gewidmet. Einen Tag zuvor hat sie mir von zahlreichen Vorhaben erzählt, die innerhalb der Universität die Frauen und Frauenforschung weiterbringen sollen. Sie machen Frauenvollversammlungen, haben einen Frauenrat, wählen sich eine Frauenbeauftragte. Sie hat damit zu tun, sie ist maßgeblich daran beteiligt. „Die Frauen haben mich in Besitz genommen.“ In den letzten zwei Jahren sei es für sie, „ohne zu merken, daß es ein Hauptthema ist“, dazu geworden. Ihr Geburtsland ist die Türkei.

Ihr Vater war Jurist. Nach dem Abitur ging sie - damals technik- und fortschrittsgläubig - in die Bundesrepublik an die Technische Hochschule Stuttgart und studierte Ingenieurwissenschaften. Ihr Mann ist Kunstprofessor in Karlsruhe. Sie hat zwei erwachsene Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Wie sie das alles geschafft hat, so zu arbeiten und Kinder großzuziehen? Sie kann zufrieden sein: Ihre Mutter hat die Kinder übernommen und zeitweise der Vater ihrer Kinder. Heute leben sie in verschiedenen Städten, auch das scheint eine glückliche Kombination zweier arbeitsreicher Leben zu sein. „Wir müssen nicht nur im Beruf neue Modelle finden, sondern auch im Privaten.“

Ihre Frauenaktivitäten begannen um 1980 und außerinstitutionell. In der Bürgerinitiative Schlachthof in Kassel, einem Kulturzentrum, ging es um internationale Frauengruppen. Gemeinsam mit türkischen Frauen hat sie Beratung gemacht und Konzepte erarbeitet. Heute nennt sie diese Zeit „kontrovers und fruchtbar“. Ein Ergebnis dieser Jahre ist ein Symposium im kommenden Jahr zur Situation türkischer Feministinnen, das sie organisiert. „Wie ein warmes Bad“ war für sie der Kontakt zu den türkischen Frauen. War in ihrer Familie die Großmutter die mächtigste Frau gewesen und der Vater eine „auswärtige Person“, so hatte sie nie gelernt in Frauen etwas Minderes zu sehen. Diese bittere Erfahrung machte sie erst während ihres Studiums in Deutschland. „Ich stelle mir vor, eine andere Präsidentin zu sein.“ Das glaubt man ihr aufs Wort. Sie könnte es sich dort oben in der Verwaltung kollegialer vorstellen, wünscht sich als Präsidentin einen größeren und offenen Diskurs und hat überhaupt „keine Angst, daß mir Autorität genommen wird“, wenn sie sich mehr öffnet. Ich begleite sie noch zu ihrem Termin. Die Veranstaltung hat schon angefangen. Sie weiß, wie man trotz hochhackiger Schuhe lautlos übers Parkett geht. Ich bewundere das.

Maria Neef-Uthoff