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FLN-Anwälte fordern Pluralismus in Algerien

■ Frühere Verteidiger der heute regierenden Befreiungsfront FLN wenden sich gegen Einparteienherrschaft / Regierung spricht von 3.743 Festnahmen in der vergangenen Woche / Bereits 721 Verurteilungen / Auch am Sonntag wieder Festnahmen in der Hauptstadt Algier

Algier (afp) - In Algerien haben zehn Mitglieder des Anwaltkollektivs, das während des Algerienkrieges die heute als Einheitspartei regierende Nationale Befreiungsfront FLN verteidigt hatte, die Einführung des „demokratischen Pluralismus“ in Algerien gefordert. Sie wandten sich in einem offenen Brief an Präsident Chadi Bendjedid. Kopien des vom 12.Oktober datierten Schreibens wurden am Montag in Algier veröffentlicht. Darin versichern die Anwälte, es sei ihre „Pflicht, zu sagen, daß das Aufkommen individueller Freiheiten notwendigerweise durch die Respektierung des demokratischen Pluralismus bedingt“ sei. Keine Gruppe dürfe sich in einem demokratischen Land das Denk- oder Meinungsäußerungsmonopol zuschreiben, genausowenig wie die alleinige Wahl ihrer Regierungen.

Weiter heißt es in dem Schreiben, 26 Jahren lang habe das algerische Volk in seinen verschiedenen Bestandteilen nie die Möglichkeit gehabt, sich frei zu äußern. „Wir glaubten, die natürliche Meinungsvielfalt der einstimmigen Fassade einer aufgezwungenen Geschlossenheit opfern zu müssen“. In Anspielung auf die vom Staatschef genannten Gründe für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die zu den Unruhen geführt haben - das nicht in den Griff zu bekommende Bevölkerungswachstum, die niedrigen Einkommen, Trockenheit meinen die Anwälte, dies seien „Triebfedern, ohne jedoch Rechtfertigungen zu sein für das, was geschehen ist“.

Bei den Auseinandersetzungen der vergangenen Woche in Algerien sind nach Angaben der Regierung 3743 Menschen festgenommen worden. 721 von ihnen seien bereits in Sondersitzungen der Strafkammern verurteilt im Rahmen von Verfahren, wie sie bei Tätern angewandt werden, die auf frischer Tat ertappt wurden. 153 Angeklagte seien von den Gerichten freigesprochen worden, weitere 923, überwiegend Minderjährige, ohne Verhandlung freigelassen worden, hieß es weiter. Keine offziellen Angaben gab es über die Höhe der Strafen. In der ostalgerischen Stadt Annaba jedoch waren vor einer Woche bei den ersten Prozessen in Zusammenhang mit den Unruhen Gefängnisstrafen von vier bis acht Jahren verhängt worden. In anderen Städten im Innern des Landes lagen die Urteile meist zwischen zwei bis fünf Jahren Haftstrafe.

Seit Beginn der Auseinandersetzungen hatten die Behörden 900 Festnahmen bekanntgegeben. Auch fünf Tage nach Aufhebung des Ausnahmezustandes am Mittwoch kam es am Sonntag noch zu neuen Festnahmen. Zivilpolizisten führten in verschiedenen Vierteln Algiers Demonstranten ab, die ihre Mitdemonstranten nennen sollten.

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