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Eurydike antwortet

■ Zu Antje Oliviers und Karin Weingartz-Perschels erstem deutschsprachigen Komponistinnen-Lexikon

Hector Berlioz erzählt in seinen Memoiren von einer Oper, zu der Victor Hugo das Libretto geschrieben hat: Esmeralda von Louise Bertin. Sie fiel beim Publikum durch. Was Berlioz bedauert; das Werk dieser Frau hielt er für „weit bedeutender als so viele andere, die man tagtäglich beklatscht“. Berlioz half bei der Einstudierung, die einzige Arie, die den Zuhörern gefiel, wurde daher ihm zugeschrieben. Er verteidigte die Komponistin.

Im besten einschlägigen Musik-Lexikon, dem 20bändigen englischen Grove's Dictionary - steht über Louise Bertin (1805-1877) außerdem, daß sie vorher noch drei andere Opern komponiert hat, eine davon nach einem Libretto von Scribe, danach überhaupt keine mehr. Das heißt: die letzten 40 Jahre ihres Lebens nicht. Sie habe an partieller Lähmung gelitten und oft ihre Kompositionstätigkeit verheimlicht. Mehr steht da nicht. Keine Ahnung, ob ihre Werke noch existieren, keine Ahnung, warum sie aufgehört hat. Keine Ahnung, ob Berlioz recht hatte, wenn er sie zu „den intelligentesten und fähigsten Frauen unserer Zeit“ rechnete.

Jetzt ist im Tokkata-Verlag für Frauenforschung ein Komponistinnen-Lexikon erschienen, von dem ich mir Aufschluß erhoffte. Ich suche unter B. Louise Bertin ist nicht verzeichnet.

Davon abgesehen sind über 250 andere Komponistinnen aufgeführt, mit Kurzbiographie, Werkverzeichnis, Biblio- und Diskographie. Eine Fundgrube. Von Enheduanna (Mesopotamien, ca. 2500 v. Chr.), von der die ältesten bekannten musikalischen Dokumente überhaupt stammen, über Beatriz de Dia (eine der Frauen im Mittelalter, die auf den Minnesang der Männer mit Gesang reagierte: „Ich muß davon singen, obwohl ich nicht will“), und Barbara Strozzi, der ersten bekannten „Berufskomponistin“ im 17. Jahrhundert bis zu indischen, rumänischen, amerikanischen, australischen Komponistinnen, die zur Zeit 30/40 Jahre alt sind. Ich lese von der kanadischen Komponistin Eckhardt-Gramatte (1899 1974), deren Mutter Tolstois Kinder unterrichtet hat und die schon mit 6 Jahren komponierte. Geboren wurde sie in Moskau, studiert hat sie in Paris, ging dann nach Berlin, hatte mit Strawinsky, Strauss, Casals zu tun, ging nach Amerika, dann nach Wien: 1939. Ob die Nazis sie mochten oder warum sonst sie ausgerechnet ab '39 ihre „ersten großen Erfolge feierte“, erfahren wir nicht. Erst 1953 wanderte sie nach Kanada aus.

Ich lese über Patricia Jünger (geb. 1951), die im nächsten Jahr in Basel zusammen mit Elfriede Jelinek deren Klavierspielerin auf die Bühne bringt, daß sie schon häufig Texte von Jelinek vertont hat. Außerdem von Enzensberger, Genet, Mayröcker, Biermann. Ihre Tonbandkompositionen heißen Amok, Über allen Wipfeln ist Ruh' oder Kopfwäsche. Klingt gut.

Ich lese von Johanna Kinkel (1810-1858), daß nicht nur ihre vier Kinder und die Armut im Exil, sondern auch ihre Teilnahme an der 48er Revolution es ihr unmöglich machten, weiter zu komponieren. Zehn Jahre nach '48 springt sie in London aus dem Fenster.

Zahlreiche Kurfürstinnen, Herzoginnen und Prinzessinen aus dem 18. und 19. Jahrhundert waren als hochgebildete Frauen berühmt und komponierten vor allem Opern. Alleine Amalie, Prinzessin von Sachsen (1794-1870) hat 15 geschrieben.

Eine Fundgrube: von den 22 unter C und D verzeichneten Komponistinnen finden sich im größten deutschsprachigen Musiklexikon, der 24bändigen Musik in Geschichte und Gegenwart nur drei. Diese drei waren vor allem als Virtuosinnen bekannt. Wenn sie noch etwas anderes sind außer Komponistinnen, also Sängerinnen, Pianistinnen oder auch Gattinnen berühmter Männer, dürfen sie auch in die Standard -Lexika.

Dachte ich. Dann verglich ich mit dem Grove. Über die Hälfte der Komponistinnen unter C und D finden sich dort auch. Die, die fehlen, sind häufig noch sehr jung, machten wohl erst nach Redaktionsschluß von sich reden. Über die, die drin stehen, erfahre ich häufig mehr. Zum Beispiel über Teresa Carreno (1853-1917): Sängerin, Pianistin, Komponistin. Im Grove hat sie vier Ehemänner. Der erste ist Geiger: Sie komponiert Streichquartette. Der zweite ist Bariton: Sie tritt als Opernsängerin auf und organisiert Tourneen. Der dritte, Eugene d'Albert, ist selbst Komponist und Pianist; er scheint ihr nicht bsonders gut getan zu haben: Laut Lexikon wandelt sie sich in dieser Zeit von der „ungestümen Spielerin“ zur „nachdenklichen Interpretin“.

Das Komponistinnen-Lexikon erwähnt ihre Männer mit keinem Wort - eine Frau als „Gattin von“ zu bezeichnen, gehört sich auch nicht in Frauenkreisen. Dabei tut es in diesem Fall zur Sache; Teresa Carreno scheint alles andere als ein Anhängsel ihrer Gatten gewesen zu sein. Im Komponistinnen-Lexikon erfahre ich nur von ihrer Berühmtheit und ihren Ehrungen.

Ärgerlicher als die meist langweilige Aufzählung von Auszeichnungen und Stipendien und bei wem studiert und wo gelehrt wurde ist der komplette Verzicht auf jegliche Anmerkung zu den Werken selbst. Zwar mag etwa bei Patricia Jünger oder bei Laurie Anderson das Werkverzeichnis tatsächlich für sich sprechen oder da, wo sämtliche Kompositionen verschollen sind, kein Kommentar möglich sein. Aber warum ist etwa zur ersten Opernkomponistin Francesca Caccini (Anfang 17.Jahrhundert), von deren Werken Aufnahmen existieren, nur vermerkt, daß ihre frühen Kompositionen „den höfischen Unterhaltungswerten entsprachen“? Grove erwähnt immerhin unregelmäßigen Periodenbau, unvorbereitete Dissonanzen, kräftig schreitende Baßlinien und ihr besonderes Gespür für die Brillanz der menschlichen Stimme. Das klingt nicht nur nach Unterhaltung. (Die Briten haben außerdem zwölf bibliographische Hinweise gesammelt. Bei Olivier/Weingartz steht kein einziger - sie hätten wenigstens abschreiben können).

So erfreulich bei den jüngeren Komponistinnen der Hinweis auf Noten-Verlage und Schallplatten ist, so ärgerlich ist der Verzicht auf Quellenangaben bei den älteren, nicht verlegten Kompositionen. Da Elke Mascha Blankenburg und etliche andere der Kölner Musikfrauen fleißig in Bibliotheken und Archiven gewühlt und viele Handschriften zutage gefördert haben, müßte es doch für Antje Olivier als Chefin des Archivs von Frau und Musik e.V. ein Leichtes sein, den jeweiligen Fundort anzugeben. Ganz abgesehen von der manchmal lückenhaften Biblio- und Diskographie: Bei Laurie Anderson fehlt die wichtigste Platte, United States, bei Beatriz de Dia das hervorragende und in jeder besseren Bibliothek vorhandene Buch von M.Bogin, The Women Troubadours, New York 1976.

Zwar muß das Lexikon als vorläufiges Ergebnis mühsamer Pionierarbeit verstanden werden und es versteht sich auch selbst als work in progress, dennoch mißt sich die Qualität eines Lexikons nun mal an seinem Bemühen um Vollständigkeit.

Das Allerärgerlichste jedoch ist der regelmäßige Verweis auf die Mitgliedschaft in besagtem Verein Frau und Musik e.V.. Bei den betreffenden Komponistinnen ist sie jeweils im Schlußsatz vermerkt, nach der Vita. Als sei sie das Wichtigste. Dabei läßt sie bestenfalls den Verdacht aufkommen, es handele sich um ein kommentiertes und um die Historie erweitertes Mitgliederverzeichnis.

Zumindest wird damit dummes Männergehabe übernommen: Vereinsmeierei wird lobend erwähnt, und wie so oft verschweigt auch hier die Lexikonsprache mehr, als sie mitteilt: „Ihre Kompositionen bewegen sich vorwiegend in symphonischen und kammermusikalischen Formen und sind sehr eng mit der Poesie Ossip Mandelstams verbunden“. Ein Paradebeispiel dafür, wie man es nicht machen soll.

Das Bemühen um Sachlichkeit, um den neutralen Ton ignoriert überdies ein merkwürdiges Phänomen. Einerseits werden viele der Komponistinnen als krank oder kränklich beschrieben, oder sie haben früher aufgehört zu komponieren: nicht nur Alma Mahler, weil ihr Mann es verboten hat, sondern noch 1944 (!) Rebecca Clarke, nachdem sie einen Kollegen geheiratet hatte. Oder sie schreiben „trotz ihrer schwachen körperlichen Konstitution“, haben Männerpseudonyme, springen aus dem Fenster. Andererseits werden ununterbrochen Bewunderer und Preise aufgezählt, als gelte es, auf jeder Seite des Lexikons neu zu beweisen, daß Frauen trotzdem komponieren können. Dabei ist die bloße Existenz dieses Buchs wohl Beweis genug.

Immerhin, es macht Appetit auf mehr. Die Herausgeberinnen haben einen Folgeband mit 250 weiteren Komponistinnen angekündigt. Dort finde ich dann vielleicht auch Louise Bertin.

Christiane Peitz

Antje Olivier/Karin Weingartz-Perschel: Komponistinnen von A -Z, 363 S. mit Abb. und Literaturverzeichnis (lückenhaft), Tokkata-Verlag, Düsseldorf 1988, 39 DM.

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