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Die Liebe zur Blutwurst

■ Gerhard Zwerenz über 'Lettre International‘ Nr. 2

Kam 'Lettre International‘ sensationell mit einem unüberhörbaren Trompetenstoß daher, fürsorglich der taz beigelegt, erscheint die Nr.2 so leise, als ließe der Trompeter einen fahren, und ein erster Eindruck läßt vermuten, es handele sich um Resteverwertung, was in Nr.1 keinen Platz mehr fand, macht die zweite Nummer aus.

Ich weiß nicht, was die Redaktion will, mißtraue ihren mageren Erläuterungen und liebe sie wegen des Abenteuers, dem bilddrogensüchtigen Publikum mit einer Zeitschrift zu kommen, die aus langen Texten besteht und statt der Bilder ein paar Kleckse, Typos und Holzschnitte bringt. Mit Ausnahme der Werbung, die auf Seite zwei Grenos wilde Poetenschar in sinniger Paßbildpose vorweist: Enze, sich ohrfeigend, Ransmayr, die andere Wange hinhaltend, darunter die Anzeige fürs großartigste Lügen-Organ beider Welten, Sinn und Form genannt, ein unverwüstlich aufsteigender Imageträger voller hochkarätiger Namen, jedes Blatt ganz und gar aus Gold am Baum Stalinscher Massenmorde: Hier irrte Benjamin, hier betrieb nicht der Faschismus die Ästhetisierung der Politik, während der Kommunismus ihm mit der Politisierung der Kunst antwortete, sondern, Genossen & Kameraden, genau umgekehrt, Sinn und Form ist die bis heute undurchschaute Ästhetisierung der Stalinschen Massenmorde und Gulag-Lager, und jeder Autor darf von sich sagen, er sei dabei gewesen, was nicht zu bemerken eine Linke voraussetzt, der jeder Sinn für Gerechtigkeit, Freiheit und Anarchie derart restlos ausgetrieben wurde, daß sie noch nicht einmal im Jahre des Herrn 1988 merkt, wie tot sie ist.

Lesen wir also 'Lettre‘ gegen den Genossen-Strich. Die süd und mittelamerikanische Literatur ist erneut stark vertreten, beginnend mit Darcy Ribeiros Dschungel-Poem Tropisches Requiem, einem Nachruf auf die Wälder (des Amazonas usw.), “...das Zerstörungsprojekt schreitet eilig voran, finanziert von den Regierungen..., erfüllen sie schnell und effektiv die schändliche Aufgabe, die sie sich gestellt haben, den Urwald umzubringen.“

Während ich die den Dschungel betrauernde Dschungel-Prosa lese, fällt mir, auf Seite sieben, wieder Werbung auf, vom Hamburger Argument Verlag, für Die fünfte Freiheit von Noam Chomsky, was mich veranlaßt, diesen hierzulande sträflich unterschätzten, ja unbekannten Chomsky wärmstens zu empfehlen, denn er ist noch einer, der weiß, was er will, und wagt, es zu sagen. (Hinweis für 'Lettre‘ Nr.3, bittschön!)

Wir kommen zu Nicholas Shakespeares Reisebericht Auf der Suche nach dem Führer von Sendero Luminoso, dem geheimnisvollen Guzman, ich finde alle brüllenden Schönheiten und verstopften Dummheiten lateinamerikanischer Dschungelprosa vorbildlich gesammelt vor. Derlei liest sich traumhaft, nur ein böser Mensch bleibt wach und weiß nie, was Fakt und was Fiktion ist, was gehauen und nicht gestochen, was Himmel und Hölle: Wer sind die Mörder? „Ihre Köpfe wurden am Haar zurückgezogen, dann wurde ihnen der Hals durchgeschnitten, wie Hühnern. Ein junges Mädchen tat das. Sie war die Anführerin. Sie hielt ein Gefäß darunter, das Blut aufzufangen.“ Jetzt wissen wir genau, wie in den Anden Blutwurst gemacht wird.

Ich dringe durch die Urwälder namens Carlos Fuentes und Octavio Paz, die Kulturen der Mayas und ihrer Götter vor bis zu Hans Christophs Buch, der mir die Zustände auf Haiti verklickert und von Ludvik Vaculik abgelöst wird, dessen Prager Verhörberichte ich Anfang der achtziger Jahre schon las, als sie frischgedruckt beim DGB-Bund Verlag erschienen. Von Haiti in die CSSR ein kurzer Sprung. Allerdings benötigen die Führer auf Haiti noch Killer, was die Prager Politiker längst hinter sich ließen. Ihr Volk hat resigniert. Ein wenig einsperren genügt, ganz wie in der ebenso Perestroika-feindlichen DDR. Und Knüppel aus dem Sack lernt man beim Westfernsehen.

Kurz vor Heftmitte lacht mir doch Carlo Ripa di Meana mitten ins Gesicht. Als Foto, zur Abwechslung, mich zaust der Schock, der Schmock, der Bock, Überschrift: Ein Europa der Kultur, unser Carlo ist „Mitglied der Kommission, die sich mit dem Kulturhaushalt befaßt“. So schreibt der auch, unser zuständiger „Europäischer Kulturbeauftragter“, den ein Weltgeist fragt: „Was ist nun das Europa der Kultur? Ein Experiment, eine Sache, die im Werden begriffen ist?“ Und unser Kulturbeauftragter hatte eben mal so dahinbedeutet: „Was die Kulturpolitik angeht, so haben wir die Wüste endlich durchquert!“

Welche Wüste er wohl durchquert hat? Ein Europa? Ganz Europa? Oder begab er sich auf die Reise durch seinen eigenen Kopf? In der Wochenendbeilage der 'FR‘ stehen die mageren Witze immer auf der letzten Seite. Was, beim Teufel der Europäer, mag die 'Lettre'-Macher bewogen haben, damit schon bei Heftmitte zu kommen? Ging der Stoff aus? Nein. Wer sich fürs Geld (und wie es Kapital heckt) interessiert, findet Aufklärung über Keynes wie sonst nirgendwo. Leider halte ich, erfahrungsgetränkt, alle Ökonomie für Schwindel pur, noch nicht einmal Fidel Castro holt mich vom Hocker, der irgendwas Kluges zur Weltschuldenkrise abläßt, ohne sich mit meinen gegenwärtigen Weltschulden zu befassen.

Weiterblätternd und um keinen Heller reicher lese ich Deutsche im deutschen Exil von Hans Joachim Schädlich, dem immer Scharfen, Lesbaren, wenn auch schwer, und Schädlich hielt, glaube ich mich zu entsinnen, den Text als Rede bei irgendeinem Treffen von irgendwelchen immer vorhandenen Trauer-Deutschen.

Teutschland-Ost, Teutschland-West. Viel Tränen gab's und schlechtes HO-Brot. Eine Zwischenüberschrift verlautet „Ostwestdeutsche Schriftstellertage“, mein Gemüt wackelt als gesamtdeutscher Pudding herum, an die Mauer genagelt, wer von Ost nach West geht, aber unter den Teutschen bleibt, ist nicht exiliert, verlautbart Schädlich. Kann sein, oder nicht. Da gab's Zeiten, daß sich welche über die Grenze retteten, blutend, andere wurden abgeschossen, andere blieben sieben Jahre zur Ausbildung in Bautzen, Zeiten gab's, da schlief unsereins im Westen mit der Pistole unterm Kopfkissen, das war, als Heinz Brandt in West-Berlin eindämmerte, in Ost-Berlin aufwachte und seinen KZ-Freuden im Dritten Reich noch so lange das Zuchthaus Bautzen anfügen durfte, bis wir, die Weltöffentlichkeit alarmierend, seine Freilassung erreichten. Kein Exil? Kommt drauf an, was für einer einer ist. Gut geschrieben, scharf gedacht, schlecht geschlußfolgert, doch der Ost-West-Treibsand ist zäh und ewig, dafür sorgt die Firma Stasi & Co, und sei's mit Westkrediten.

Nike Wagner: Zur Ästhetik der Moderne, Karl Kraus und Leo Popper geben Georg Simmel eins aufs Dach. Las ich mit Gewinn und Vergnügen, obwohl der altklugscheißerische Titel Übles ahnen läßt. Fällt denen Ästheten nicht mal was Neues ein? Doch. Sie können's nur nicht ausdrücken.

Mehrmals und mit Vergnügen las ich eingestreute Texte von Edward Bond, die hier als Gedichte verkauft werden, was sie auch sind. Eine Moskauer Diskussion aus dem Jahre 1935 langweilt mich entsetzlich. Meine Schuld. Meine Vergangenheiten. Heute und hier ist sowas brandneuaktuell. Was für ein zurückenes Land. Keine Ahnung heißt seine Filosofie. Der Schnee von gestern wird bei uns als Sahne verkauft. Der Rest ist Theater. Nein. Milan Kundera Über die Kritik. Auch nicht neu, aber plausibel. Irgendwer warf, die letzten beiden Seiten zu füllen, Korrespondenzen rein, was die Seiten 97 und 98 zu Juwelen steigert. Man kopiere sie und verstreue das im Volk.

'Lettre‘ erinnert mich, Gott sei meiner armen Zehe gnädig, an Jörg Schröders Mammut-Anthologie, der Zwölfhundert -Seiter kostete 'nen halben Hunderter, 'Lettre‘ gibt's für zwölf Mark, und du weißt, was die zweite Lost-Generation zu bieten hat: nicht viel, das aber schon durcheinandergerührt. Als alter Herr vermerke ich verwundert eine gewisse zielsuchende Beharrlichkeit, durch die die unsereinem nachfolgende Generation der weinenden Zwerge sich ansonsten selten auszeichnet. Gemeinhin sind sie unbeständig, sauertöpfig statt sauerteigig, müde, uninteressiert und abgequält, physiognomisch eher dauerquengelige Onanisten als Erzeuger. Jetzt jedoch legen sie schon zum zweiten Male vor, was auf langen Atem deutet. Ob das Publikum da mitatmet, wird sich bald zeigen. Vorerst bleibt Mitteleuropa kulturell noch das graue Loch mit ausgefransten Rändern, wohin der Teufel am liebsten scheißt - auf die größten Haufen und in die tiefsten Löcher.

'Lettre‘ mag nützlich sein, zum Abwischen, groß genug ist das Papierformat. Und was die Texte betrifft, so hoffe ich auf mehr Gift. Der Unterschied zu anderen Kulturzeitschriften und zum Feuilleton ist noch zu gering, die Absicht der Redaktion nur angedeutet, nicht realisiert. Stand die Nummer1 im Zeichen Mitteleuropas, führt Nummer2 den Stoß nicht weiter. „Prompt haben die Intellektuellen, Schriftsteller, Künstler die ästhetischen Kriterien auf die Gebiete der Ethik und Politik übertragen... Die Kühnheit des Denkens ist hier nicht unbedingt ein Trumpf: In der Politik ist nur Mäßigung eine Tugend und nicht Extremismus...“, heißt es auf Seite 98. In der Politik ja. In der Kultur nicht. In der Literatur schon gar nicht. Deren mitteleuropäische Adepten überlassen allen Extremismus den Politikern, Militärs, Rüstungsmanagern. Und die Kultur schweigt dazu, auf die vom Tisch der Mächtigen abfallenden Brocken hoffend. Kultur als Tarnung. Die Blume im Raketenmaul. Wer 'Lettre‘ nicht kennt, weiß nicht, wie prächtig aufschlußreich und vielmäulig zum Wichtigsten geschwiegen werden kann. Ein bißchen wesentlicher wäre von Nutzen.

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