: 1933-38: Auch in der Rückschau ein Faszinosum
■ Die Rede des zurückgetretenen Bundestagspräsidenten Jenninger in Auszügen
Meine Damen und Herren, die Juden in Deutschland und in aller Welt gedenken heute der Ereignisse vor 50 Jahren. Auch wir Deutschen erinnern uns an das, was sich vor einem halben Jahrhundert in unserem Land zutrug, und es ist gut, daß wir dies in beiden Staaten auf deutschem Boden tun. (...)
Viele von uns haben gestern auf Einladung des Zentralrats der Juden in Deutschland an der Gedenkveranstaltung in der Synagoge in Frankfurt am Main teilgenommen. Heute nun haben wir uns im Deutschen Bundestag zusammengefunden, um hier im Parlament der Pogrome vom 9. und 10. November 1938 zu gedenken - weil nicht die Opfer, sondern wir, in deren Mitte die Verbrechen geschahen, erinnern und Rechenschaft ablegen müssen; weil wir Deutschen uns klar werden wollen über das Verständnis unserer Geschichte und über Lehren für die politische Gestaltung unserer Gegenwart und Zukunft.
Die Opfer - die Juden überall auf der Welt - wissen nur zu genau, was der November 1938 für ihren künftigen Leidensweg zu bedeuten hatte. - Wissen wir es auch?
Was sich heute vor 50 Jahren mitten in Deutschland abspielte, das hatte es seit dem Mittelalter in keinem zivilisierten Land mehr gegeben. Und, schlimmer noch: Bei den Ausschreitungen handelte es sich nicht etwa um die Äußerungen eines wie immer motivierten spontanen Volkszorns, sondern um eine von der Staatsführung erdachte, angestiftete und geförderte Aktion. (...)
Kein Zweifel, die in der Bevölkerung alsbald mit dem Begriff „Reichskristallnacht“ belegten Ereignisse markierten einen entscheidenden Wendepunkt in der Judenpolitik der NS -Herrscher. Die Zeit der scheinlegalen Verbrämungen des Unrechts ging zu Ende; nun begann der Weg in die systematische Vernichtung der Juden in Deutschland und in weiten Teilen Europas.
Die Bevölkerung verhielt sich weitgehend passiv; das entsprach der Haltung gegenüber antijüdischen Aktionen und Maßnahmen in den vorangegangenen Jahren. Nur wenige machten bei den Ausschreitungen mit - aber es gab auch keine Auflehnung, keinen nennenswerten Widerstgand. Die Berichte sprechen von Betroffenheit und Beschämung, von Mitleid, ja von Ekel und Entsetzen. Aber nur ganz vereinzelt gab es Teilnahme und praktische Solidarität, Beistand und Hilfeleistung. - Alle sahen, was geschah, aber die allermeisten schauten weg und schwiegen. Auch die Kirchen schwiegen. (...)
Für das Schicksal der deutschen und europäischen Juden noch verhängnisvoller als die Untaten und Verbrechen Hitlers waren vielleicht seine Erfolge. Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt.
Wiedereingliederung der Saar, Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, massive Aufrüstung, Abschluß des deutsch -britischen Flottenabkommens, Besetzung des Rheinlandes, Olympische Sommerspiele in Berlin, „Anschluß“ Österreichs und „Großdeutsches Reich“ und schließlich, nur wenige Wochen vor den Novemberpogromen, Münchner Abkommen, Zerstückelung der Tschechoslowakei - der Versailler Vertrag war wirklich nur noch ein Fetzen Papier und das Deutsche Reich mit einem Mal die Hegemonialmacht des alten Kontinents.
Für die Deutschen, die die Weimarer Republik überwiegend als eine Abfolge außenpolitischer Demütigungen empfunden hatten, mußte dies alles wie ein Wunder erscheinen. Und nicht genug damit: aus Massenarbeitslosigkeit war Vollbeschäftigung, aus Massenelend so etwas wie Wohlstand für breiteste Schichten geworden. Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen ? War er nicht wirklich von der Vorsehung auserwählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird?
Sicher, in freien Wahlen hatte Hitler niemals eine Mehrheit der Deutschen hinter sich gebracht. Aber wer wollte bezweifeln, daß 1938 eine große Mehrheit der Deutschen hinter ihm stand, sich mit ihm und seiner Politik identifizierte? Gewiß, einige „querulantische Nörgler“ (Haffner) wollten keine Ruhe geben und wurden von SD und Gestapo verfolgt, aber die meisten Deutschen - und zwar aus allen Schichten: aus dem Bürgertum wie aus der Arbeiterschaft - dürften 1938 überzeugt gewesen sein, in Hitler den größten Staatsmann unserer Geschichte erblicken zu sollen. (...)
Das heißt, Hitlers Erfolge diskreditierten nachträglich vor allem das parlamentarisch verfaßte, freiheitliche System, die Demokratie von Weimar selbst. Da stellte sich für sehr viele Deutsche nicht einmal mehr die Frage, welches System vorzuziehen sei. Man genoß vielleicht in einzelnen Lebensbereichen weniger individuelle Freiheiten; aber es ging einem persönlich doch besser als zuvor, und das Reich war doch unbezweifelbar wieder groß, ja größer und mächtiger als je zuvor. - Hatten nicht eben erst die Führer Großbritanniens, Frankreichs und Italiens Hitler in München ihre Aufwartung gemacht und ihm zu einem weiteren dieser nicht für möglich gehaltenen Erfolge verholfen?
Und was die Juden anging: hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zukam. Mußten sie nicht endlich einmal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden? Und vor allem: entsprach die Propaganda - abgesehen von wilden, nicht ernstzunehmenden Übertreibungen - nicht doch in wesentlichen Punkten eigenen Mutmaßungen und Überzeugungen?
Und wenn es gar zu schlimm wurde, wie im November 1938, so konnte man sich mit den Worten eines Zeitgenossen ja immer noch sagen: „Was geht es uns an! Seht weg, wenn euch graust. Es ist nicht unser Schicksal“ (Rauschning).
Antisemitismus hatte es in Deutschland - wie in vielen anderen Ländern auch - lange vor Hitler gegeben. Seit Jahrhunderten waren die Juden Gegenstand kirchlicher und staatlicher Verfolgung gewesen; der von theologischen Vorurteilen geprägte Antijudaismus der Kirchen konnte auf eine lange Tradition zurückblicken. (...)
Als besonders verhängnisvoll erwies sich die Instrumentalisierung der Darwin'schen Lehre durch die Propagandisten des Antisemitismus. Hier war endlich das Rüstzeug, um dem Geraune von der jüdischen Weltverschönerung und dem ewigen Kampf der Rassen ein wissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen; hier das Gesunde, Starke, Nützliche, dort das Krankhafte, Minderwertige, Schädliche, die jüdische „Verwesung“, das „Ungeziefer“, von dem es sich durch „Ausmerzung“ und „Vernichtung“ zu befreien galt.
Hitlers sogenannter „Weltanschauung“ fehlte jeder originäre Gedanke. Alles war schon vor ihm da: der zum biologistischen Rassismus gesteigerte Judenhaß ebenso wie der Affekt gegen die Moderne und die Utopie einer ursprünglichen, agrarischen Gesellschaft, die zu ihrer Verwirklichung des „Lebensraumes“ im Osten bedurfte. Sein eigener Beitrag bestand außer in der weiteren Vergröberung, Vereinfachung und Brutalisierung des von anderen übernommenen Weltbildes im wesentlichen in der fanatischen Besessenheit und massenpsychologischen Begabung, mit der er sich selbst zum wichtigsten Propagandisten und Programmatiker des Nationalsozialismus emporhob. (...)
Die Geschichte reduzierte sich auf einen Kampf der Rassen; zwischen Ariern und Juden, zwischen „germanischen Kulturspendern“ und „jüdischen Untermenschen“. Die Rettung für das deutsche Volk und die endgültige Niederwerfung des Menschheitsverderbers konnten nur in der Erlösung der Welt vom jüdischen Blut als dem bösen Prinzip der Geschichte liegen.
Das Gegenbild war der Krieger und Bauer, der in den Weiten des Ostens im steten Kampf gegen asiatische Horden die Grenzen des germanischen Kulturlandes immer weiter ausdehnte und gleichzeitig mittels Zucht und Veredelung die germanische Rasse in einsame Höhen hinaufmendelte. - Noch als anderswo am Bau der Atombombe gearbeitet wurde, verkündeten Himmler und andere diese an Idiotie grenzenden Vorstellungen mit der ermüdenden Eintönigkeit von Geisteskranken.
Gleiches galt für Hitlers Zwangsvorstellunge des schwarzhaarigen, hakennasigen Juden, der die weiße, blondgelockte germanische Frau mit seinem Blut schändete und damit für immer ihrem Volk raubt. Schon in „Mein Kampf“ findet sich wieder und wieder diese Wahnvorstellung, die sich in einer endlosen Litanei über „Unzucht“ und „Bastardisierung“, „Vergewaltigung“ und „Blutschande“ bis in sein Testament hinein fortsetzt.
Das Elend der Kindheit, die Demütigungen der Jugend, die ruinierten Träume des gescheiterten Künstlers, die Deklassierung des stellungs- und obdachlosen Herumtreibers und die Obsessionen des sexuell Gestörten - das alles fand in Hitler ein Ventil: seinen unermeßlichen und niemals endenden Haß auf die Juden. Der Wunsch zu demütigen, zu schlagen, auszutilgen und zu vernichten beherrschte ihn bis zum letzten Augenblick.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion bot sich die Möglichkeit, beides miteinander zu verbinden: die Eroberung von „Lebensraum“ im Osten und die schon am 30. Januar 1939 öffentlich angedrohte „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. Bereits im Vorfeld des Ostfeldzuges zeichnete sich
-Stichworte „Kommissarbefehl“ und „Einsatzgruppen“ - ein gigantisches Morden ab, das selbst das, was zuvor in Polen geschehen war, weit in den Schatten stellen mußte. In den Monaten nach dem 22. Juni 1941 werden unter dem Vorwand der Partisanen- und Bandenbekämpfung Hunderttausende jüdischer Männer, Frauen und Kinder von hinter der Front tätigen Einsatzgruppen erschossen. Die „Endlösung“ hat begonnen lange bevor sie am 20. Januar 1942 auf der „Wannsee -Konferenz“ aktenkundig wird.
In der Folge entstehen die Fabriken des Todes; aus den „Gaswagen“ werden Gaskammern und Verbrennungsöfen, während die Erschießungen weitergehen. Den unschuldigen Opfern wird selbst der Scharfrichter verweigert; die Täter ersetzen den Henker durch die ins Monströse gesteigerten, industrialisierten Methoden des Kammerjägers - getreu ihrer Sprache, es gelte „Ungeziefer auszutilgen“.
Und auch vor diesem Letzten, Schrecklichsten wollen wir am heutigen Tag nicht die Augen verschließen.
Von Dostojewski stammt der Satz: „Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt.“ Wenn es keinen Gott gibt, so ist alles relativ und imaginär, da vom Menschen gemacht. Dann gibt es keine Wertordnung, keine verbindlichen Moralgesetze, keine Verbrechen, keine Schuld, keine Gewissensbisse. Und da denjenigen, die um dieses Geheimnis wissen, „alles erlaubt“ ist, hängen ihre Handlungen allein von ihrem Willen ab. Sie sind frei, sich über alle Gesetze und moralischen Werte hinwegzusetzen.
Dostojewski hat diesen Gedanken - der später bei Nietzsche wiederkehrt - in mehreren seiner Werke auf seine Konsequenzen für das Individuum wie für das Zusammenleben der Menschen, für die Gesellschaft untersucht. Was seinen Zeitgenossen als abseitige Spekulation eines religiösen Grüblers erscheinen mochte, erwies sich als prophetische Vorwegnahme der politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts. (...)
Hören wir jetzt den Reichsführer SS aus seiner Rede vor SS -Gruppenführern in Posen im Oktober 1943:
„Ich will hier vor Ihnen in aller Offenheit auch ein ganz schweres Kapital erwähnen. Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden ... Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. - „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt ein jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir“. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat einen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben und dabei - abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwäche anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte ... Insgesamt können wir sagen, daß wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.“
Wir sind ohnmächtig angesichts dieser Sätze, wie wir ohnmächtig sind angesichts des millionenfachen Untergangs. Zahlen und Worte helfen nicht weiter. Das menschliche Leid ist nicht rückholbar; und jeder einzelne, der zum Opfer wurde, war für die Seinen unersetzlich. So bleibt ein Rest, an dem alle Versuche scheitern, zu erklären und zu begreifen.
Das Kriegesende 1945 bedeutete für die Deutschen in mehrfacher Hinsicht einen tiefen Schock. Die Niederlage war total, die Kapitulation bedingungslos. Alle Anstrengungen und Opfer waren sinnlos gewesen. Zu der entsetzlichen Wahrheit des Holocaust trat die vielleicht bis heute nicht völlig verinnerlichte Erkenntnis, daß die Planung des Krieges im Osten und die Vernichtung der Juden unlösbar miteinander verbunden gewesen waren, daß das eine ohne das andere nicht möglich gewesen wäre.
Die Deutschen waren auf ihre bare Existenz zurückgeworfen; niemand wußte angesichts Millionen Toter und der zerbombten Städte, wie es weitergehen sollte. Alle Werte, an die man geglaubt hatte, alle Tugenden und Autoritäten waren kompromottiert. Die Abkehr von Hitler erfolgte beinahe blitzartig; die zwölf Jahre des „Tausendjährigen Reichs“ erschienen bald wie ein Spuk. Darin äußerte sich gewiß nicht nur die vollständige Desillusionierung hinsichtlich der Methoden und Ziele des Nationalsozialismus, sondern auch die Abwehr von Trauer und Schuld, der Widerwille gegen eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Man kann solche Verdrängungsprozesse heute mit einleuchtenden Gründen kritisieren, und wir tun gut dran, diese Kritik ernsthaft und vorbehaltlos zu bedenken. Moralische Überheblichkeit führt dabei allerdings nicht weiter. Vielleicht konnte das deutsche Volk in der heillosen Lage des Jahres 1945 gar nicht anders reagieren, und vielleicht überfordern wir uns rückblickend selbst in unseren Ansprüchen an die damalige Zeit.
Heute stellen sich für uns alle Fragen im vollen Wissen um Auschwitz. 1933 konnte sich kein Mensch ausmalen, was ab 1941 Realität wurde. Aber eine über Jahrhunderte gewachsene Judenfeindschaft hatte den Nährboden bereitet für eine maßlose Propaganda und für die Überzeugung vieler Deutscher, daß die Existenz der Juden tatsächlich ein Problem darstellte, daß es so etwas wie eine „Judenfrage“ wirklich gab. Die zwangsweise Umsiedlung aller Juden - etwa nach Madagaskar, wie von den NS-Herrschern vorübergehend erwogen
-wäre vermutlich auf Zustimmung gestoßen.
Es ist wahr, daß die Nationalsozialisten große Anstrengungen unternahmen, die Wirklichkeit des Massenmordes geheimzuhalten. Wahr ist aber auch, daß jedermann um die Nürnberger Gesetze wußte, daß alle sehen konnten, was heute vor 50 Jahren in Deutschland geschah, und daß die Deportationen in aller Öffentlichkeit vonstatten gingen. Und wahr ist, daß das millionenfache Verbrechen aus den Taten vieler einzelner bestand, daß das Wirken der Einsatzgruppen nicht nur in der Wehrmacht, sondern auch in der Heimat Gegenstand im Flüsterton geführter Gespräche war. Unser unvergessener Kollege Adolf Arndt hat 20 Jahre nach Kriegsende in diesem Haus den Satz gesprochen: „Das Wesentliche wurde gewußt.“
Warum leistete niemand Widerstand gegen den Völkermord? Schließlich hatten doch die Machthaber die Euthanasiemorde nicht in dem zunächst geplanten Umfang verwirklichen können, weil sie bei den Angehörigen der Opfer und bei den Kirchen auf Widerstand trafen. Die Juden standen am Ende allein. Ihr Schicksal stieß auf Blindheit und Herzenskälte.
Viele Deutsche ließen sich vom Nationalsozialismus blenden und verführen. Viele ermöglichten durch ihre Gleichgültigkeit die Verbrechen. Viele wurden selbst zu Verbrechern. Die Frage der Schuld und ihrer Verdrängung muß jeder für sich selbst beantworten.
Wogegen wir uns aber gemeinsam wenden müssen, das ist das Infragestellen der historischen Wahrheit, das Verrechnen der Opfer, das Ableugnen der Fakten. Wer Schuld aufrechnen will, wer behauptet, es sei doch alles nicht so - oder nicht ganz so - schlimm gewesen, der macht schon den Versuch zu verteidigen, wo es nichts zu verteidigen gibt.
Solche Bemühungen laufen nicht nur tendenziell auf eine Verleugnung der Opfer hinaus - sie sind auch ganz sinnlos. Denn was immer in der Zukunft geschehen oder von dem Geschehenen in Vergessenheit geraten mag: an Auschwitz werden sich die Menschen bis an das Ende der Zeiten als eines Teils unserer, der deutschen Geschichte erinnern.
Deshalb ist auch die Forderung sinnlos, mit der Vergangenheit „endlich Schluß“ zu machen. Unsere Vergangenheit wird nicht ruhen, sie wird auch nicht vergehen. Und zwar unabhängig davon, daß die jungen Menschen eine Schuld gar nicht treffen kann. Renate Harpprecht, eine Überlebende von Auschwitz hat dazu gesagt: „Man kann sich sein Volk nicht aussuchen. Ich habe mir damals manchmal gewünscht, nicht Jüdin zu sein, dann bin ich es aber in sehr bewußter Weise geworden. Die jungen Deutschen müssen akzeptieren, daß sie Deutsche sind - aus diesem Schicksal können sie sich nicht davonstehlen.“ (...)
Meine Damen und Herren,
die Erinnerung wachzuhalten und die Vergangenheit als Teil unserer Identität als Deutsche anzunehmen - dies allein verheißt uns Älteren wie den Jüngeren Befreiung von der Last der Geschichte.
Beides fordert unsere Wachsamkeit heraus, eine Wachsamkeit im Gebrauch menschlicher Macht, die sich der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen ebenso bewußt ist wie dessen, was der Mensch dem Menschen im Geiste züggellosen und fanatischen Machtmißbrauchs anzutun fähig war.
Auf den Fundamenten unseres Staates und unserer Geschichte gilt es eine neue moralische Tradition zu begründen, die sich in der humanen und moralischen Sensibilität unserer Gesellschaft beweisen muß.
Nach außen bedeutet dies die Pflicht zur kollektiven Friedensverantwortung, zur aktiven Befriedung der Welt. Dazu gehört für uns auch das Existenzrecht des jüdischen Volkes in gesicherten Grenzen. Es bedeutet die systemöffnende Kooperation zwischen West und Ost. Und es bedeutet eine Garantenpflicht für das Überleben der Dritten Welt.
Nach innen bedeutet es Offenheit und Toleranz gegenüber dem Mitmenschen - ungeachtet seiner Rasse, seiner Herkunft, seiner politischen Überzeugung. Es bedeutet die unbedingte Achtung des Rechts. Es bedeutet Wachsamkeit gegenüber sozialer Ungerechtigkeit. Und es bedeutet das kompromißlose Eintreten gegen jede Willkür, gegen jeden Angriff auf die Würde des Menschen.
Dies ist das Wichtigste: Lassen wir niemals wieder zu, daß unserem Nächsten die Qualität als Mensch abgesprochen wird. Er verdient Achtung; denn er trägt wie wir ein menschliches Antlitz.
(Kursive Passagen sind Hervorhebungen der Redaktion.)
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