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H A R R Y G R A F K E S S L E R

■ B E R L I N , 1 3 . M Ä R Z 1 9 1 9

Abends Zusammenkunft unseres „revolutionären“ Klubs bei Cassirer: Hilferding, Kestenberg, Lederer, Breitscheid, Däubler, Hugo Simon, Justizrat Werthauer, der Redakteur Döscher vom 'Vorwärts‘, der Engländer Young, ein Kommunist aus dem Kultusministerium, Fister. Dieser unterbreitete mir ein Projekt für eine Proletarierschule, die Betriebsräte heranbilden soll. Ich habe etwas Ähnliches in meinem Programmentwurf verlangt und zeigte diesen Fister.

Mit Däubler zusammen den Justizrat Werthauer beauftragt, die Interessen Wieland Herzfeldes in die Hand zu nehmen. Dieser soll nach Däubler von Moabit nach Plötzensee gebracht sein. Den Maler Grosz haben, wie Däubler erzählte, Soldaten in seinem Atelier verhaften wollen; er hat sich auf Grund eines falschen Ausweises für einen andren ausgegeben und ist seitdem ein Flüchtling: schläft eine Nacht hier, die andre dort (so ungefähr wie ich in Warschau).

Der weiße Schrecken wütet ungehemmt. Die Erschießung von 24 Matrosen durch Regierungstruppen auf dem Hofe eines Hauses in der Französischen Straße scheint ein grauenhafter Mord gewesen zu sein: Die Leute wollten in dem Hause bei ihrer Kassenverwaltung bloß ihre Löhnung holen.

Young, der in Lichtenberg war, sagt, es seien dort nur wenige hundert Spartakisten gewesen; die Regierungstruppen hätten sofort marschieren können, wenn sie gewollt hätten. Warum hätten sie es vorgezogen, die Sache laufen zu lassen? In Halle, wo Young ebenfalls war, sei alles vollkommen ruhig gewesen, bis die Noske-Truppen kamen. Young sagt, er habe sich jetzt überzeugt, daß der Geist, der Noske und seine Garden beseele, nichts anderes sei als der alte Militarismus, der sein haupt wieder erhebe. Er dürfte, insofern mit Militarismus Brutalität und Überheblichkeit gemeint ist, recht haben.

Noske hat jheute in Weimar eine im Ton höchst bedauerliche, schnurrbartschnauzende Rede gehalten, in der er seinen Sieg über den inneren Feind verkündet; sehr widerwärtig! Alle geistig und ethisch anständigen Menschen müssen einer so leichtsinnig und frech mit dem Leben ihrer Mitbürger spielenden Regierung den Rücken kehren. Die letzten acht Tage haben durch ihre Schuld, durch ihr leichtfertiges Lügen und Blutvergießen, einen in Jahrzehnten nicht wieder zu heilenden Riß in das deutsche Volk gebracht. Die Stimmung gegen sie heute abend wechselte zwischen Abschau und Verachtung. So mag man in Frankreich gegen Napoleon III. nach dem Staatsstreich empfunden haben wie heute hier gegen Noske und Scheidmann...

Berlin, 14. März 1919, Freitag.

Die Erschießung der 24 Matrosen in der Französischen Straße, wo in dieser ganzen Zeit nichts los gewesen ist, will mir nicht aus dem Kopf. Es ist eines der scheußlichsten Bürgerkriegsverbrechen unter den mir historisch bekannten. Ich versuchte abends, mir „Wie es euch gefällt“ bei Reinhardt anzusehen; kam aber nicht in Stimmung. Diese Morde und Erschießungen an der Tagesordnung in Berlin wollten mir nicht aus dem Sinn...

Dieser Bericht über die Gegenrevolution in Berlin ist den Tagebüchern Harry Graf Kesslers (1868-1937) entnommen. Der Diplomat, Schriftsteller und Mäzen Kessler war ein ungewöhnlich vielseitig gebildeter und scharf beobachtender Chronist seiner Zeit. Ausgewählt von

Michael Trabitzsch

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